Stephan Reimers ist der Erfinder der Obdachlosenzeitung “Hinz&Kunzt“ und des Spendenparlaments, das gerade zum 50. Mal tagte.

Hamburg. Die Geschichte erzählt er mit Begeisterung. Auch wenn Stephan Reimers sie wahrlich nicht zum ersten Mal erzählt. Es war die Zeit kurz nach der Wende, als er noch Leiter der Evangelischen Akademie Nordelbiens gewesen ist. Jeden Tag musste er über eine Brücke gehen, um zu seinem Büro an der Esplanade zu kommen. Und immer saßen hier Bettler, die den Pastor um ein paar D-Mark baten. "Ich habe sie jedes Mal gefragt, ob es nicht mehr gibt, was man für sie tun könnte, und immer wieder erhielt ich dieselbe Antwort auf meine Frage. Nämlich, dass sie zu schlechte Papiere hätten, um einen Arbeitsplatz zu bekommen", erinnert sich Reimers.

Für ihn war klar, es müsse etwas geschehen. Er wollte den Obdachlosen helfen, wieder auf den richtigen Weg zu kommen. "Die Aufgaben werden einem oft vor die Füße gelegt", sagt der 68-Jährige. Anfang der 1990er-Jahre habe es in Hamburg aufgrund der deutschen Wiedervereinigung rund 7000 Obdachlose gegeben, und insgesamt 1,9 Millionen Wohnungen hätten im Westen gefehlt. Was hätte da nähergelegen, als den Menschen zu helfen, die weder Job noch ein Dach über dem Kopf haben?

Heute blickt Reimers auf eine Reihe erfolgreicher sozialer Projekte zurück. Das Spendenparlament, das vor Kurzem zum 50. Mal tagte, ist eines davon. Reimers hatte es als früherer Hamburger Diakoniechef 1995 gegründet, um mit finanziellen Mitteln ganz gezielt gegen Armut und Isolation vorzugehen.

Mit 50 Freiwilligen erarbeitete er vor 17 Jahren die Satzung des gemeinnützigen Vereins. Heute hat das Spendenparlament rund 3400 Mitglieder, die pro Jahr jeweils mindestens 60 Euro zahlen. "Stellen Sie sich das Parlament wie eine Investitionsbank vor, die Geld sammelt und weitergibt. Hamburg ist eine so reiche Stadt, deshalb darf das Soziale nicht vernachlässigt werden."

Ein Projekt, das ohne die Hilfe durch das Spendenparlament gar nicht möglich gewesen wäre, ist die Rathaus-Passage. Ein ehemals verwahrloster Zugang zu den Bahnsteigen unter dem Rathausmarkt, der unter der Ägide des Geistlichen 1997 umgebaut worden ist und Arbeitsplätze für 17 Langzeitarbeitslose geschaffen hat. Wo damals also noch Obdachlose schliefen und herumlungerten, ist eine Ladenzeile mit Restaurant und Antiquariat entstanden. Hierhin hat Reimers auch zum Gespräch eingeladen und plaudert bei einer Tasse Cappuccino über sein soziales Engagement. "Nach der Sanierung des Rathauses war dieser Bereich hier eine Unglücksmeile", sagt er und zeigt ein Foto, bei dessen Anblick sofort klar wird, was er meint. Zu sehen sind mit Graffiti beschmierte Wände, Müll und unheimliche Leere. "Oben hui, unten pfui. Dieses Projekt hat mir damals viele schlaflose Nächte bereitet. Man konnte anfangs gar nicht sagen, wie viel Geld der Umbau kosten würde", erinnert sich Reimers. Dass letztendlich dann doch alles gut gegangen ist, verdankt er einer großzügigen Spende des mittlerweile verstorbenen Kaffee-Unternehmers Bernhard Rothfos.

Reimers' bekanntestes Projekt ist jedoch die Obdachlosen-Zeitung "Hinz &Kunzt". Die Idee kam ihm, als er 1993 eine Meldung einer kirchlichen Nachrichtenagentur las. "Die berichteten über die britische Straßenzeitung 'Big Issue', und ich dachte: 'Kann man das nicht auch hier in Hamburg machen?'", erinnert sich Reimers und nimmt einen großen Schluck aus der gelben Cappuccino-Tasse, die vor ihm auf dem Café-Tisch steht.

Schnell hatte er eine Handvoll Journalisten und auch einige Obdachlose gefunden, die mit dabei sein wollten. "Wir stellten Verkäuferregeln auf, die bis heute gültig sind. Jeder Verkäufer hat einen Betreuer an seiner Seite, der guckt, wie er mit seinem Leben klarkommt. Und jeder bekommt einen Euro pro verkauftem Exemplar", sagt Reimers. Das Projekt startete am 6. Novemember 1993 auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz mit 30 000 Exemplaren. "Viele Verkäufer trauten sich nicht, die Leute anzusprechen. Doch einer fing an, ganz mutig die Zeitung auszurufen, und andere zogen nach", erzählt Reimers und lächelt zufrieden. "Innerhalb von zwei Stunden hatten wir so über 6000 Zeitschriften verkauft."

Für ihn ist "Hinz&Kunzt" wie die "Hebamme" aller anderen sozialen Projekte. "Das Spendenparlament war für mich damals eine Möglichkeit, den Spendern ein Mitbestimmungsrecht zu geben. Sie sollten die sozialen Projekte kennenlernen und wissen, was mit ihrem Geld passiert."

1999 fasste Reimers dann einen schweren Entschluss. Er kehrte der Hansestadt den Rücken und ging mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Berlin. Dort arbeitete er, bis er sich 2009 in den Ruhestand verabschiedete, als Bevollmächtigter des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD). "Mir war aber immer klar, dass ich nach Hamburg zurückkehre", sagt Reimers, der in Altona aufwuchs.

Jetzt hat ihn die Hansestadt schon seit drei Jahren wieder, und er bekleidet - natürlich - viele Ehrenämter. Unter anderem ist er Vorsitzender der Stadtmission. "Es ist eine Herausforderung, im Ruhestand nicht zu viel zu machen. Aber eigentlich kann ich mir das alles ganz gut einteilen", sagt er. Sich nützlich zu machen, das sei eben einfach sein Leben.