Dirk Rosenkranz ist neuer Vorstandsvorsitzender der Muskelschwund-Hilfe e. V.. Für ihn ist der Rollstuhl keine Resignation, sondern Freiheit.

Hamburg. Anfangs war da nur so eine unverständliche, im Alltag kaum wahrnehmbare Schwäche. Dirk Rosenkranz war in der Schule einer der Schlechtesten im Sport. Er lief langsamer als die anderen, war im Weitsprung manchmal schon vor der Sandgrube wieder am Boden, wurde in Ballspielen als Erster abgeschossen und stets als Letzter in ein Team gewählt. "Ich war das letzte Übel", sagt er. Es hat lange gedauert, aber heute kann er darüber lachen. Obwohl er inzwischen weiß, dass hinter der schlechten Sportnote eine tödliche Krankheit stand.

Rosenkranz ist neuer Vorstandsvorsitzender der Deutschen Muskelschwund-Hilfe. Sein Vorgänger, der im Februar verstorbene Joachim Friedrich, hat den Verein in Hamburg als Anlaufstelle für Erkrankte und Angehörige gegründet. Er hilft ihnen im Umgang mit Bürokratie und unterstützt sie in Rechts- und Betreuungsfragen. Wenn sie oder ihr Kind von der Krankheit erfahren, müssen viele neben dem Schock auch einen neuen Alltag bewältigen.

Es ist eine bedrückende Diagnose: ein schleichender Abbau der Muskulatur. Den Erkrankten fällt das Gehen immer schwerer, sie fallen häufig. Irgendwann schaffen sie es nicht mehr, aus eigener Kraft aufzustehen. Im schlimmsten Fall wirkt sich die Krankheit auch auf Lungen- und Herzmuskel aus. Physiotherapie und Medikamente können die Symptome bessern. Heilen können sie die Krankheit nicht.

Rosenkranz hat seine Diagnose mit 14 Jahren durch Zufall bekommen. Die Ärzte entdeckten damals erhöhte Leberwerte, dann andere Unstimmigkeiten in seinem Blut. Sie sagten ihm eine Lebenserwartung von 40 Jahren voraus. Laufen, schätzten sie, würde er mit Anfang 20 nicht mehr richtig können.

Heute ist er 46 Jahre alt. Noch immer empfängt er seine Besucher im Stehen, aufrecht, lächelnd, in Höhe der Hüfte gestützt auf einen Krückstock. Lange war der gebürtige Bergedorfer anderen Betroffenen aus dem Weg gegangen, hatte eine Begegnung mit der eigenen Zukunft gescheut. Während seiner Ausbildung als Restaurantfachmann am Hotel Vier Jahreszeiten drängte sein Chef Gert Prantner dann auf ein Treffen mit Joachim Friedrich. Rasch wurden die beiden Männer Freunde, das Selbstvertrauen

Friedrichs hat auch Rosenkranz geprägt. "Ich hatte die Wahl, den Kopf in den Sand zu stecken oder mein Leben mit der Krankheit zu akzeptieren", sagt er. Er hat sich für Letzteres entschieden. Nach seiner Ausbildung studierte er Betriebswirtschaft, zu Ende des Studiums schrieb er seine Abschlussarbeit. Das viele Sitzen schwächte seine Muskeln. Plötzlich musste er auf Treppen innehalten, weil seine Beine versagten.

Mit den Jahren wurde der Kontakt zur Muskelschwund-Hilfe immer enger, seit 2008 ist er nun im Vorstand. Als ehemaliger Personalleiter beim TV-Sender Premiere hatte er schon immer mit Menschen zu tun, das "Betteln" habe er aber erst lernen müssen, sagt er: Geld organisieren, Kontakte knüpfen. Mitgliedsbeiträge verlangt der Verein nicht, ist auf Spenden und die Hilfe von Unternehmen angewiesen.

Die Öffentlichkeitsarbeit wird daher eine von Rosenkranz' Hauptaufgaben sein. Noch immer wird Muskelschwund oft mit der Multiplen Sklerose verwechselt, noch immer gibt es viele Hindernisse: ein nicht abgesenkter Bordstein, ein Restaurant, das seine Toilette im Keller hat. Und wie erklärt man einer Behörde, dass man zwar noch laufen kann, aber trotzdem einen Behindertenparkplatz braucht? "Weil jeder Windstoß einen Erkrankten umwerfen und der dann nicht wieder aufstehen kann", sagt Rosenkranz.

Er kennt dieses Gefühl der Hilflosigkeit. Lange hat er den Rollstuhl gemieden, weil er sich anfühlte wie eine Niederlage. Stattdessen hat er durch ihn vieles zurückgewonnen. Jahrelang sah er die Natur nur aus dem Autofenster, nun kann er wieder Ausflüge machen. Seine Frau Jessica steht ihm dabei immer zur Seite.

Vieles hat Rosenkranz von seinem Vorgänger und Freund Joachim Friedrich gelernt. Dass Kontakte wichtig sind, um Hilfe zu organisieren. Dass ein Rollstuhl nicht Resignation bedeutet, sondern wiedererlangte Freiheit. Und dass man auch dann Haltung bewahren kann, wenn den Körper langsam die Spannkraft verlässt.

Am Sonnabend laden die Deutsche Muskelschwund-Hilfe und die Staatsoper Hamburg um 19 Uhr zu ihrem 30. Operndinner in der Staatsoper ein. Mit dabei ist auch Fürstin Elisabeth von Bismarck. Restkarten gibt es für 230 Euro unter 0 41 01/326 14.