Pia Douwes und Annika Bruhns sind über 20 Jahre im Musical-Geschäft. Claudia Sewig sprach mit ihnen über ihre Arbeit und ihr eigenes Musical-Projekt.

Hamburg. Musical - das ist ein Genre, das jährlich Millionen Besucher in Hamburger Theater lockt und das doch von Kritikern gerne belächelt wird. Warum das so ist, ob man mit Mitte 40 noch eine Chance als Musical-Darstellerin hat und wo es mit den Castingshows hingeht - zwei der bekanntesten Frauen in der deutschen und internationalen Musical-Szene im Doppel-Interview: Annika Bruhns (43), bekannt als Donna in "Mamma Mia!", und die 45-jährige Pia Douwes ("Best of Musical Gala 2010").

Hamburger Abendblatt: Als was bezeichnen Sie sich?

Annika Bruhns: Offiziell bin ich Musical-Darstellerin. Dieser Begriff wurde von der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger Anfang der 90er-Jahre entwickelt. Wobei ich finde, dass das abwertend klingt.

Pia Douwes: Das sehe ich nicht so! Es ist, was es ist. Ich finde es viel schlimmer, wenn jeder gleich ein "Musical-Star" ist. Den Star muss man sich erst erarbeiten. Aber Darsteller? Das ist okay. Auch wenn Musical-Künstler vielleicht schöner wäre und besser ausdrücken würde, was wir alles Unterschiedliches können ...

Bruhns: ... aber nichts davon richtig, wie Kritiker gerne bemängeln, weder Gesang, noch Tanz, noch Schauspiel. Aber wir können alles drei - und das ist mehr, als mancher Opernsänger vorweisen kann, der ernst genommen wird. Als Opernsängerin wurde ich übrigens ursprünglich klassifiziert - bevor der Darsteller-Begriff aufkam .

Abendblatt: Steckt der Fluch dann insgesamt im Begriff Musical?

Bruhns: Für das Publikum nicht, aber in den Medien schon manchmal. Da wird man mit unserem Genre gerne mal belächelt. Es werden dann die Superlative der Technik einer Show - so viele Meter Kabel, so viele 1000 Strahler - aufgelistet, aber die Superlative, die die Darsteller erbringen, fallen unter den Teppich.

Douwes: Dabei ist Musical nicht gleich Musical. Klar gibt es reine, seichte Unterhaltungsstücke, aber auch richtig tief gehende, schwere Stücke. Und dazwischen vom Musikstil her alles: von Pop über Rock 'n' Roll und Rock bis klassisch. So, wie es nicht nur die eine Art von Film gibt, gibt es auch nicht nur die eine Art von Musical. Aber während Ersteres allen Menschen einleuchtet, ist Letzteres einigen nicht klarzumachen.

Abendblatt: Ist das ein deutsches Problem?

Bruhns: O ja! Wir Deutschen sind Meister des Schubladendenkens ...

Douwes: Aber das sind die Holländer auch! Und trotzdem wird da mit dem Thema anders umgegangen. In allen Ländern zählen Musicals etwas, nur in Deutschland gibt es damit tatsächlich ein Problem. Vielleicht, weil in der Boom-Zeit des Genres Deutschland regelrecht mit Musicals überschüttet wurde.

Bruhns: In Amerika ist es zum Beispiel völlig gängig, das einer in einer Show in der Requisite arbeitet und in der nächsten Show auf der Bühne steht - wenn er das Zeug dazu hat. Hier musst du dich erst absolut bewiesen haben, um auch eine andere Seite zeigen zu können. Das nimmt Barbara Schöneberger mit "Jetzt singt sie auch noch!" herrlich auf die Schippe.

Abendblatt: In immer mehr Castingshows müssen sich Kandidaten beweisen. So wurden in Deutschland erstmalig auch die Hauptdarsteller für das Musical "Tarzan" im Fernsehen gecastet. Sieht so die Zukunft der Auswahlverfahren aus?

Bruhns: Wahrscheinlich schon, jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Da steckt einfach eine riesige Geldmaschinerie hinter, die sich niemand entgehen lassen will.

Douwes: Auch wenn es schade ist, dass im Fernsehen nur noch um alles gekämpft wird. Das ist eine echte Überdosis. Allerdings muss ich die Castings für "Tarzan" in Deutschland und in Holland, an denen ich als Jurymitglied und Coach beteiligt war, verteidigen: Wenn man dadurch die Leute wieder weg vom Bildschirm in die Theater holt, dann ist das ein guter Weg. Und es funktioniert.

Abendblatt: Aber wie steht es um die Qualität der Kandidaten?

Douwes : Die ist gut, wenn eine ernsthafte Jury auf positive Art und Weise entscheiden kann. Ich wollte da ja auch erst nicht mitmachen, aber dann hat mich mein Bruder gedrängt: "Bring deine Expertise da ein!" Und er hatte recht. Wenn man als Jurymitglied auf 25 Jahre Berufserfahrung zurückblickt, kann man den Kandidaten einfach ganz andere Dinge mit auf den Weg geben. Für renommiertere Darsteller ist das Format allerdings keine vorteilhafte Entwicklung, da man einiges mehr aufs Spiel setzt. Aber dann ist es eben gut, dass solche Castings nur auf Newcomer ausgerichtet sind.

Abendblatt: Generell geht der Trend in der Szene zu immer jüngeren Künstlern.

Bruhns: Jünger bedeutet billiger für die Arbeitgeber.

Douwes: Aber es hat auch viel mit den Stücken selbst zu tun: Reine Entertainment-Musicals, wie ich sie jetzt mal nenne, brauchen auch mehr jüngere Leute für die Rollen. Die Theaterunternehmen sollten sich trauen, auf eine breitere Mischung zu achten - bei Stücken und damit auch bei den Altersklassen der Darsteller.

Abendblatt: Wie schwer ist es, mit über 40 im Musical-Geschäft eine Rolle zu bekommen?

Bruhns: Es gibt schon noch Rollen, aber es gibt eben auch verdammt viele von uns. Tänzer können sich ab Mitte 30 umschulen lassen, Musical-Darsteller nicht. Männer haben es dabei noch leichter, frei nach dem Motto: Frauen werden alt, Männer interessant. Nur Pia zeigt allen, wie es geht: Sie bekommt jede Rolle! (lacht)

Douwes: Danke! Aber das ist auch echt harte Arbeit. Als ich in dem Beruf anfing, habe ich noch überhaupt nicht an morgen oder an eine Karriere gedacht. Ich war glücklich im Ensemble, und noch heute braucht jedes Stück ebenso ein gutes Ensemble wie gute Hauptdarsteller.

Abendblatt: Und wenn man dann doch irgendwann keine Rollen mehr bekommt?

Douwes: Oder Familie und Job unter einen Hut bringen muss? Da bewundere ich Annika und ihren Mann Mickey, wie sie das mit ihrem Sohn hinbekommen. Der Beruf ist wirklich familienfeindlich. Was bleibt ist zu unterrichten, ins Schauspiel zu wechseln oder zum Fernsehen zu gehen.

Bruhns: Aber diese Bereiche sind natürlich auch total überlaufen. Da muss man schon ganz schön rommeln - sonst bleibt nur der Taxischein.

Abendblatt: Oder ein eigenes Unterhaltungsprojekt, wie Sie beide es in der kommenden Woche starten ...

Bruhns: Das ist jetzt keine Beschäftigungstherapie! (lacht) Wir wollten einfach zeigen: Ihr kennt uns vielleicht aus dem einen oder anderen Musical, aber da ist noch eine ganze Menge mehr.

Douwes: Ja, und das sind einfach wir, die da völlig natürlich zusammen singen, quer durch alle Stilrichtungen. Es geht um uns, nicht um ein Stück, und wir erzählen unsere Geschichte.

Abendblatt: Eine Freundschaft, die 1988 in Wien begann.

Bruhns: Und die über eine gemeinsame WG-Zeit in Hamburg und einige gemeinsame Rollen bis heute Bestand hat - "Still friends" eben. Nur eines wird schwierig: Wir reden normalerweise Englisch miteinander - das wird auf der Bühne komisch.

Douwes: Und wir haben bis jetzt fast nur über Skype zusammen geprobt, weil Annika in Hamburg war und ich auf Tournee. Das wird auch spannend!

Abendblatt: Sie beide lieben Ihren Job, das ist klar. Aber würden Sie heute noch jemandem raten, ihn zu ergreifen?

Bruhns: Auch wenn ich seit sechs Jahren selbst unterrichte und dieser Beruf für mich das ist, wo ich hingehöre: nein. Es ist ein Psychoterror-Job, den man nur machen sollte, wenn man sich wirklich absolut nichts anderes vorstellen kann.

Douwes: Und wenn man Talent, Durchsetzungsvermögen und einen guten Humor mitbringt, um auch viele unangenehme Dinge schlucken zu können. Dann allerdings gibt es einem wahnsinnig viel Freude.


Pia Douwes: Eine internationale Karriere

Die in Amsterdam geborene Pia Douwes (45) gehört europaweit zu den erfolgreichsten Musical-Stars. Sie studierte drei Jahre an der Brooking School of Ballet in London und erhielt Gesangsunterricht von Carol Blaickner-Mayo und Noëlle Turner. Erste Bühnenerfahrungen sammelte sie u. a. in der deutschsprachigen Erstaufführung von "Little Shop of Horrors" (Wien), als Maria in "West Side Story" (Niederlande, Österreich) und in der Rolle der Fantine in "Les Misérables" (Niederlande). In der Welturaufführung des Musicals "Elisabeth" in Wien kreierte Pia Douwes die Titelrolle. Die Rolle der Milady de Winter in "Drei Musketiere" wurde von ihr bereits in der Welturaufführung in Rotterdam geprägt. Gerade kommt sie von der Tour "Best of Musical Gala 2010" zurück.

Annika Bruhns: Aktuell am Operettenhaus

Die gebürtige Hamburgerin Annika Bruhns (43) wuchs in Israel und in den USA auf und ließ sich am Connecticut College New London (USA) im Fach Musical ausbilden. Annika Bruhns war Mitglied der Meisterklasse der American Musical und Dramatic Academy (AMDA) in New York. Für die Produktion von "Les Misérables" (Wien) kehrte sie nach Europa zurück und spielte unter anderem die Rolle der Eponine. Es folgten weitere Hauptrollen wie beispielsweise Eva Peron in "Evita" oder Maria in "Jesus Christ Superstar". Von 2002 bis 2007 spielte sie alternierend die Donna in "Mamma Mia!" am Operettenhaus in Hamburg. Derzeit ist sie dort ebenfalls alternierend als Lisa Wartberg in "Ich war noch niemals in New York" zu sehen.