Die Idee verbreitet sich weltweit und ist so anonym wie geheimnisvoll: In Gebäudewänden verstecken sich USB-Sticks, die jeder nutzen kann.

Grindel. Diese Klinkerwand kann sprechen, Geschichten erzählen und Musik machen. Aber man muss ganz genau hinschauen. Sonst erkennt man nicht, dass das Mauerwerk auf dem Campus der Hamburger Universität ein kleines Geheimnis in sich trägt. Etwa auf Kniehöhe weist ein Pfeil aus Knete auf ein graues Plastikstück, das in eine Fuge eingelassen ist. Dahinter schlummert, wie in einer Miniatur-Schatzkammer, ein USB-Stick.

Hinter diesem Kuriosum steckt eine Idee, die sich weltweit verbreitet. Dead-Drops, auf Deutsch "tote Briefkästen", heißen die in Gebäudewänden versteckten Sticks. Manchmal sind sie angeklebt. Manchmal einzementiert, so, dass nur die Spitze aus der Wand lugt. Wer sie entdeckt, kann sich mit seinem Rechner andocken und Dateien, zum Beispiel kleine Texte oder Musik, rauf- oder herunterladen. Der anonyme Offline-Datentausch soll einen Gegenentwurf zur vernetzten Internet-Welt darstellen. Initiator dieser Idee ist der in Berlin lebende Künstler Aram Bartholl.

Im vergangenen Jahr hat er den ersten Dead-Drop in New York platziert. Auf der Internetseite deaddrops.com heißt es, dass es bis heute mehr als 500 weltweit geworden sind: unter anderem auf La Réunion, in Wien, Rio de Janeiro und Hamburg.

Auf dem USB-Stick, der zwischen Klinkerfugen auf dem Campus-Gelände versteckt ist, findet sich so allerlei: ein Leserbrief an die "Mopo"-Redaktion, ein paar Musikdateien (u. a. Massive-Attack), ein Gutschein für den Heidepark Soltau und die Dokumentation der Jahrestagung von Netzwerk Recherche 2010. Wer sich einstöpselt, weiß nicht, was ihn erwartet. Vielleicht neue Musik. Vielleicht nur Daten-Müll.

In Hamburg sind in den vergangenen Wochen und Monaten immer mehr Daten-Briefkästen dazugekommen. Wer dahintersteckt, ist nicht bekannt. Aber: Jeder Stick wird auf der Internetseite registriert, bekommt Namen und Geodaten. So soll es in Lurup einen geben, am Dammtor, in Ottensen, Barmbek, Niendorf und auf St. Pauli.

"Das Prinzip ähnelt etwas einem Ruf in einen dunklen Raum", sagt Prof. Svend Sager, der an der Universität Hamburg unter anderem zum Thema urbane Kommunikation forscht. So seien es die Faktoren Anonymität und Kontrolllosigkeit, die den Reiz dieses Datenaustauschs ausmachen. "Spontan erinnert mich das Ganze auch an die Klagemauer in Jerusalem, wo Nachrichten deponiert werden. Und die toten Briefkästen aus dem Kontext von Geheimdienst, wo Informationen ähnlich weitergegeben wurden", sagt Prof. Sager. Diese Beispiele basieren aber auf einem kulturellen Code und einer Vereinbarung. "Das ist bei den Sticks anders. Es gibt keinen festen Adressaten. Die Informationen sind für jeden zugänglich." Das berge aber auch Gefahren. So könnten sich hier pornografische und gesetzeswidrige Inhalte befinden. Der Absender hat zudem nie die Kontrolle, was mit seinen Fotos oder Texten passiert. "Aber an und für sich ist das eine interessante Sache, die nur in einer Großstadt so funktionieren kann", so Sager. Denn nur in Ballungsräumen ist die Anonymität gegeben.

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