Vor 20 Jahren warf Justus Frantz seinen Job als Gründungsintendant des Schleswig-Holstein Musik Festivals hin. Joachim Mischke war Zeitzeuge dieses bühnenreifen Kultur-Skandals und erinnert sich

Martin Luther hatte 95 Thesen. Justus Frantz hatte nur zehn. Aber er sah sich mindestens genauso sehr im Recht, an diesem 22. November 1994. Bei einer Pressekonferenz in seinem Haus in Pöseldorf warf Frantz dem damaligen Kieler Wirtschaftsminister Peer Steinbrück (SPD) eine Menge vor. „Es gibt ein dänisches Sprichwort: Lüge ist auch eine Wissenschaft, sagte der Teufel – und dozierte in Kiel“, polterte Frantz, „offensichtlich hat Steinbrück bei ihm gelernt und sein Examen gemacht.“ Und anschließend warf Justus Frantz, dieses schillernde Gesamtkunstwerk aus Pianist, Dirigent, Selfmademanager und Publikumsliebling, demonstrativ die Brocken hin.

Dieses Amtsende mit Schrecken war aber gleichzeitig auch ein raffinierter Schachzug. Denn kurz vor diesem Auftritt hatte die Landesregierung ihren Vertretern im Aufsichtsrat des Schleswig-Holstein Musik Festivals (SHMF) empfohlen, Frantz’ auslaufenden Vertrag nicht zu verlängern. Frantz ging also gerade noch rechtzeitig, bevor ihm das Gegangenwerden drohte.

Was war passiert in den Monaten vor diesem Eklat? Schönstes Symbol für das klassische Durcheinander war – ein Schuhkarton. Eine Buchführung, die angeblich so ungeordnet war, wie es bei Hempels unter dem Sofa aussieht. Belege in solchen Kartons und nicht in Ordnung, hieß es. Kreativen-Chaos. Verschärft wurde die Finanzlage Ende 1993, als der Sponsor Zentis seine Zuwendung um 75 Prozent kürzen, die Landesregierung ihren Zuschuss aber nicht erhöhen wollte. Kulturministerin Marianne Tidick warnte im Sommer 1994 wegen Frantz’ Freistil-Amtsführung: „Manchmal muss man das Festival vor seinem Intendanten und den Intendanten vor sich selbst schützen.“

Frantz’ Reaktion auf die immer lauter werdenden kritischen Stimmen war entsprechend: „Neid ist die deutsche Form der Anerkennung.“ Er gab entrüstet das Unschuldslamm vom platten Lande. „Ich hatte mit Finanzen überhaupt nichts zu tun“, war sein Credo, eine These, von der er in jenen Wochen viele Variationen parat hatte. Dabei blendete er allerdings weitgehend aus, wie viele teure Prestigeprojekte er in die SHMF-Spielpläne gehievt hatte: Da war beispielsweise ein russisches Opern-Gastspiel des Marinski mit Valery Gergiev in der Hamburger Staatsoper; der Cellist Mstislaw Rostropowitsch dirigierte mehrere Ballettabende. Auch der Veranstalter der populären „Musikfeste auf dem Lande“ hatte sich tief in die roten Zahlen manövriert. Es konnte so nicht ewig weitergehen.

Frantz hatte zwar das Kunststück geschafft, die Scheunen und Gutshöfe im rustikalen „Schläfrig-Holzbein“ zu Pflichtadressen für Klassik-Stars aus aller Welt zu machen. Wo ein Leonard Bernstein gastierte und sich auch nach Konzertende wie ein Popstar feiern ließ, war ganz weit oben. Doch gleichzeitig wuchs und wuchs das Ego des Gründungsintendanten. „Höhenrausch am Wattenmeer“ hatte der „Spiegel“ 1988 über das Justus-Prinzip gelästert.

Der anarchistische Charme der frühen Jahre ließ Frantz’ Sendungsbewusstsein genügend Spielräume, um nach Gutsherrenart zu schalten und zu walten. Niemand war im SHMF-Sortiment so allgegenwärtig wie der SHMF-Intendant, dessen Marktwert wohl auch deswegen durch die Decke gegangen war. Und kein anderer ließ sich, wie damals gern mal kolportiert wurde, wegen drängender Termine von SHMF-Orchesterproben per Hubschrauber zum nächsten Einsatz fliegen. Es war wie im kürzesten aller Karajan-Witze: „Wohin, Maestro? – Egal! Ich werde überall gebraucht.“

Das Finanzloch im Etat war von anfangs einigen Hunderttausend auf letztlich 2,6 Millionen Mark angewachsen. Eine Hiobsbotschaft, Gift für das Image der fröhlichen Klassik-Wochen – und das wenige Monate vor dem zehnten SHMF-Geburtstag, der eigentlich unbeschwert gefeiert werden sollte. Audi, ein wichtiger Sponsor, bekam kalte Füße. Krisensitzungen, mitunter bis tief in die Nacht in einem Hamburger Flughafen-Hotel, demonstrierten, wie ernst die Lage war. Retter in dieser Not war die Landesregierung, die drei Millionen Mark als Gesellschafterdarlehen bewilligte. Was blieb ihr auch übrig. Das SHMF war, wie später aus ganz anderen politischen Gründen die HSH Nordbank, „too big to fail“. Doch aus der „gigantischen musikalischen Bürgerinitiative“ (Richard von Weizsäcker) war ein riesiger Scherbenhaufen geworden. Die Nerven lagen blank, die Gegner beschimpften sich im Tagesrhythmus, am liebsten in aller Öffentlichkeit. Insbesondere Frantz und der SHMF-Aufsichtsratsvorsitzende Peer Steinbrück, zwei herzhafte Austeiler, hassten sich von ganzem Herzen.

Es gab aber auch Gutes: Dieser bühnenreife Krach war der Auftakt zu einer konsequenten Erneuerung des SHMF-Konzepts. Neue Führungsstrukturen, mehr Planungssicherheit. Mehr Berechenbarkeit.

Das ehemalige Festival-Unikat ist seitdem zum eher braven Festspiele-Serienmodell geworden. Es funktioniert. Frantz machte sich 1995 mit seiner „Philharmonie der Nationen“ selbstständig und produzierte auch damit unschöne Schlagzeilen – wieder ging es um Geld, Versprechen, Schulden und Intrigen, Macht und Profilierung. Justus Frantz blieb Justus Frantz. Auch wenn es hier und da mal kracht.