Anna King engagiert sich seit mehr als zehn Jahren für behinderte Kinder. Das Schicksal ihrer Tochter Lena hatte sie erst aus der Bahn geworfen, dann aber auf den richtigen Weg gebracht. Von Oliver Schirg

Das i-Pad auf dem Schreibtisch von Anna King zeigt ein junges Mädchen mit einem gewinnenden Lächeln und riesengroßen Augen. Anna King streicht sanft mit dem Finger über das Display. „Das ist Lena“, sagt sie mit warmherziger Stimme.

Lena ist schwer behindert. Ihr fehlt der Balken, der die Hirnhälften verbindet. Heute ist Lena zwölf Jahre alt und lebt die Woche über mit anderen behinderten Kindern im Heim Erlenbusch in Volksdorf. Jeden Freitag holt Anna King ihre Tochter ab. „Dann ist gemeinsames Wochenende mit meinem Ehemann, meiner Tochter Paula und Lenchen.“

Für Familie King ist das Normalität. Heute jedenfalls. Jahre des Ausnahmezustands liegen hinter ihr. Jahre, in denen Anna King fast alles ertragen hat, was eine Mutter durchmachen kann: angstvolle, durchwachte Nächte, eine fast gescheiterte Ehe, ein körperlicher Zusammenbruch.

Heute sitzt da eine lebenslustige Frau. Die 47-Jährige hat sich als Heilpraktikerin selbstständig gemacht. Der rote Faden wurde ihr von HSV-Vorstandschef Dietmar Beiersdorfer übergeben. Er bewundere ihre jahrelange Arbeit als Vorsitzende des Förderkreises Erlenbusch, begründete er seine Wahl. Hinzu kommt, dass der HSV dem Förderkreis Erlenbusch im vergangenen Mai 25.000 Euro gespendet hat.

Auf der Facebookseite des Förderkreises ist das Foto zu sehen: Anna King mit dem überdimensionalen Scheck in der Hand, links neben ihr Bürgermeister Olaf Scholz und rechts der damalige HSV-Vorstandschef Carl Jarchow. „Unglaublich, diese Summe“, sagt sie. „Ich fahre aber auch zu einem Spender von 300 Euro und bedanke mich.“

Wer mit Anna King über ihr Schicksal spricht, kann sich die Dunkelheit kaum vorstellen, die sie umgab, als sie mit ihrem zweiten Kind schwanger war. Schon im vierten Monat sei klar gewesen, „dass etwas nicht stimmt“, erzählt sie. Eine Drüse sei zu groß gewesen und habe so das Wachstum des Kleinhirns von Lena verhindert. „Am Ende war klar, dass eine Hirnfehlbildung vorliegt.“

Damals war Unsicherheit ein ständiger Gast in ihrem Haus. „Die Ärzte wussten es nicht genau. Es hieß immer nur, die Cisterna magna sei zu groß.“ Aber auf ihre Frage, was das bedeute, erhielt sie häufig ein Achselzucken zur Antwort. Weder war klar, wie schwer die Behinderung Lenas sein würde, noch, ob am Ende sich nicht doch alles zum Guten wenden würde. „Ich kam mir vor, als würde ich in einem fahrenden Zug sitzen und nicht aussteigen können“, erzählt Anna King.

Die junge Frau erlebte in jenen Monaten zum ersten Mal den Verlust eigener Handlungsfähigkeit. Bis dahin wähnte sie sich auf der Überholspur, „auf der Sonnenseite“. Gelernt hat sie Werbekauffrau und Kommunikationswirtin. Ihr Mann stammt aus den USA, schreibt Jingles und ist Sänger. Sie lernte ihn bei Werbeaufnahmen kennen. Beide waren an dem Projekt „Merci, dass es Dich gibt“ beteiligt. Auch in der Familie lief alles glatt. Ihr erstes Kind Paula war gesund zur Welt gekommen. Das zweite Kind sollte das Glück vervollkommnen.

„Als ich Lena das erste Mal in den Armen hielt, sah sie so süß aus, dass ich dachte, es ist vielleicht noch einmal gut gegangen“, erinnert sich Anna King. „Das Kind hatte diese riesigen Augen, mit denen es alles verfolgte.“ Aber da war auch die gespenstige Ruhe des Kindes und seine fehlende Muskelanspannung. Es ist so eine Phase im Leben eines Menschen, von der es später heißt, man sei daran gewachsen. Doch in den ersten Tagen war da kein Licht am Ende des Tunnels. „Ich wusste, dass Schwierigkeiten auf meinen Mann und mich zukommen würden. Aber wie groß sie sein würden, das ahnten wir nicht.“

Angst wurde in den Wochen nach der Geburt zu ihrem ständigen Begleiter. „Lena konnte nicht essen, nicht schlucken, nicht gut atmen und lief deshalb immer wieder blau an.“ Wer schon einmal ein kleines Kind in den Armen gehalten hat, kann vielleicht erahnen, welch seelischen Druck das bedeutet. „Ich habe immer gelauert und geschaut, wie sie aussieht“, erzählt Anna King. An Durchschlafen war nicht zu denken, an Ausruhen auch nicht. Und dann war da ja noch Paula. „Ich darf heute gar nicht daran denken, wie oft ich sie wegen Lena beiseite geschoben habe.“

Was hielt die junge Mutter in diesen Wochen des Ausnahmezustands aufrecht? Anna King spricht davon, dass sofort eine emotionale Bindung zu Lena bestanden habe. „Sie hatte riesengroße Augen und konnte uns wahrnehmen.“ Es war die Ausstrahlung dieses hilflosen Kindes, die alles Hadern hinwegfegte. „Es bestand kein Zweifel darin, dass Lena mein Kind ist, ich bei ihr sein und mich um sie kümmern wollte.“

Zu diesem Zeitpunkt war Anna King nicht bewusst, wie sehr Lena ihre Einstellung verändern würde. „Behinderte Kinder hatte ich zuvor als bedrohlichen Graus empfunden“, sagt sie. „Ich fand, dass sie gruselig aussahen, peinliche Sachen sagten oder komische Geräusche machten.“ Sie habe gedacht: „Ich habe damit nichts zu tun und muss mich nicht damit beschäftigen.“

Der Grund dafür, so glaubt Anna King heute, liegt in dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. „Behinderte Menschen verdeutlichen einem gesunden, was ihm passieren kann oder hätte passieren können.“ Allerdings sei „der Glaube an die eigene Allmächtigkeit lediglich ein großer Trugschluss“.

Nur vier Prozent aller Behinderten werden mit ihrer Behinderung geboren. Trotzdem fragt sich Anna King nicht: „Warum ich?“, sondern „Wenn nicht ich, wer dann?“ Stille senkt sich in das Arbeitszimmer. Draußen vor dem Haus am Eppendorfer Baum steht die Ampel auf Rot und der Verkehr ruht. „Ich habe damals verstanden, dass mehr Demut meinem Leben gut tut.“

Als Anna King drei Monate nach der Geburt von Lena nach Hause zurückkehrte, freute sie sich. Sie fühlte sich stark genug, diese Änderung ihres Lebens zu bewältigen. Aber rasch merkte sie, wie groß die Herausforderung ist. „Lenchen war so zart und schwächlich“, erinnert Anna King sich. „Ich bin ständig um sie herumgeschlichen und habe geschaut, ob ich sie retten muss.“

Es dauerte nicht lange bis zum Zusammenbruch. „Mir wurde klar: Ich kann niemanden versorgen, weder meine Kinder, noch mich selbst.“ Stockend kommen diese Worte. Drei Monate lag sie im Universitätsklinikum Eppendorf, doch auch nach ihrer Entlassung funktionierte es nicht. Die Entscheidung, Lena im Heim Erlenbusch unterzubringen, fällte sie schweren Herzens. Das Baby könne dort besser versorgt werden, sagte sie sich immer wieder. Doch der jungen Mutter in ihr machte die Entscheidung zu schaffen. „Mir wurde klar, dass ich die von Gott gegebene Regel, dass eine Mutter bei ihrem Kind sein müsse, nicht einhalten kann.“

Anna King strauchelte in jenen Tagen, aber sie fiel nicht. „So schlimm konnte es ja nicht immer bleiben.“ Ihr Glaube an Gott habe ihr geholfen, erzählt sie. Aber mehr noch ihre beiden Mädchen. „Der liebe Gott wäre nicht sauer gewesen, wenn ich mir das Leben genommen hätte – aber meine Kinder.“ Anna King glaubt, dass man in letzter Instanz selbst für sich verantwortlich ist. „Sicher kann ich den lieben Gott um Rat fragen, aber am Ende muss ich entscheiden.“ Dazu gehöre es, auszuhalten, wie man entschieden habe. Als Kind habe sie sich oft einen Fingerzeig aus dem Himmel gewünscht, erzählt sie. Am Ende schreibt aber das Leben die Regeln.

Anna King plädiert dafür, bei der Begegnung mit einem behinderten Menschen den Impuls, sich wegdrehen zu wollen, zu überwinden. „Man muss sich das Erschrecken erlauben, weil man nur dadurch hinter das Äußere blicken kann.“ Dann erlebe man ein göttliches Wunder. „Dass da ein zauberhafter Mensch ist, der froh sein, geküsst werden und ernst genommen werden will.“ Lena führe ihr immer wieder vor Augen, was wichtig im Leben sei, erzählt sie. „Sie ist ein Fenster in eine Welt, in der viel weniger viel mehr ist.“ Lena sei „einfach so wahnsinnig zufrieden: Aua ist doof, Hunger ist doof, ins Bett gehen ist doof, weil sie doch so gern lange aufbleiben möchte“. Dieses Glück zu erleben, auch das treibt Anna King an. Deshalb ist sie Vorsitzende des Förderkreises Erlenbusch, redet vor dem Lions-Club Uhlenhorst oder vor Kunden der Commerzbank. Es geht nicht um Millionenspenden, sondern um ein paar hundert Euro, um den Kindern besondere Wünsche zu erfüllen.

Vieles, das Anna King erzählt, klingt selbstverständlich in unserer Gesellschaft. Weniger gut findet sie die zunehmenden Versuche, Dinge nicht mehr beim Namen nennen zu dürfen. „Lena ist behindert und kein Kind mit Handicap, das Hilfe und nicht Assistenz benötigt.“ Die 47-Jährige glaubt, dass Political Correctness Diskriminierung befördert. „Einen behinderten Menschen anzustarren und im ersten Moment erschrocken zu reagieren, ist ein ganz normales menschliches Gefühl“, sagt sie. Das zu unterdrücken, sei unsinnig. „Stattdessen erlaubt das Erschrecken einem Menschen doch erst, hinter dieses Gefühl zu schauen und die Einzigartigkeit auch eines behinderten Menschen zu entdecken.“

Spendenkonto Förderkreis Erlenbusch e.V.: Commerzbank Hamburg, IBAN: DE26 2004 0000 0488 4011 00, BIC: COBADEFFXXX

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbild gelten. Anna King bekam den Faden von Dietmar Beiersdorfer und gibt ihn an Heinz-Gerhard Wilkens weiter