Vor 25 Jahren schlugen auf der „Oostzee“ Fässer mit hochgefährlichen Substanzen leck. Eigel Wiese erinnert an die dilettantische Bergung, den späteren Krebstod von Helfern und die Konsequenzen aus dem Unglück

Der erste Funkspruch an die Kanalverwaltung des Nord-Ostsee-Kanals in Brunsbüttel klang noch recht harmlos. Der Kapitän des niederländischen Frachters „Oostzee“ fragte am 18. Juli 1989 an, ob er mit seinem Schiff den Kanal passieren dürfe; er habe Fässer mit Gefahrgütern an Bord, die bei einem heftigen Sturm vor Borkum beschädigt worden seien. Auf die Rückfrage, woran man die Schäden erkenne, antwortete der Seemann, man nehme chloroformartigen Geruch wahr.

Es war eine Antwort, die Alarm auslöste. Denn der Frachter hatte 200-Liter-Fässer voller Epichlorhydrin geladen, einer Chemikalie, die bei der Herstellung von Papier für Teebeutel und Küchenkrepp ebenso benötigt wird wie zur Produktion von Autoreifen. Sie hat aber einen Nachteil: Sie ist krebserregend, und wenn man sie riechen kann, ist die gesundheitsschädliche Konzentration schon um ein Vielfaches überschritten. Außerdem hat sie die unangenehme Eigenschaft, mit allen möglichen Metallen unberechenbar zu reagieren. Und davon hatte der Frachter auch einiges geladen, zum Beispiel Vanadium, Titandioxid, Germanium und andere Mineralien, die alle hoch metallhaltig sind und die man für die Stahlherstellung braucht.

Mit solchen Gefahrenquellen durfte die „Oostzee“ auf keinen Fall in den Kanal einlaufen. Im Gegenteil, die Besatzung wurde angewiesen, auf der Reede vor Neuwerk die Anker fallen zu lassen und sich darauf vorzubereiten, von dem Schiff abgeborgen zu werden.

Aus Hamburg rückten Berufsfeuerwehrleute an, die Erfahrung im Umgang mit allen möglichen Gefahrgütern und auch die entsprechende Schutzausrüstung hatten. Wie weiter verfahren wurde, schilderte der damalige Einsatzleiter der Wasserschutzpolizei, Renke Lody, in seinem Bericht, den er zehn Jahre später, am 1. September 1999, vor dem Innen- und Rechtsausschuss des schleswig-holsteinischen Landtages abgab.

Demnach überlegte man zunächst, das Schiff nach Bützfleth zu dem Chemieunternehmen Dow Chemical zu schleppen, das diesen Stoff herstellt. Renke Lody: „Die Firma hat zu der Zeit aber immer wieder betont, dass der Stoff auf der ,Oostzee’ nicht von ihr stamme, sondern aus den USA importiert sei. Das erwies sich im Nachhinein als falsch. Der Stoff stammte doch aus Bützfleth, war mit dem Zug nach Rotterdam gefahren, dort in Fässer umgefüllt und dann auf das Schiff verladen worden. Dazu muss man sagen, dass die Berufsgenossenschaft Chemie in der Bundesrepublik empfiehlt, Epichlorhydrin nicht in 200-l-Fässern zu transportieren, sondern in kleinen Gebinden oder in Tankcontainern – wegen der besonderen Gefährlichkeit, und weil diese Fässer im Gefahrfall schwer zu handhaben sind.“

Es gab auch Überlegungen, das Schiff nach Hamburg oder Cuxhaven zu schleppen. Beide schieden aber aus, weil dort die Kais zu nahe an Wohngebieten lagen. So kam die „Oostzee“ in den Elbehafen Brunsbüttel, wo die Lösch- und Reinigungsarbeiten mehr als drei Wochen dauerten.

Dort kümmerten sich Männer von freiwilligen Feuerwehren aus Dithmarschen um den Frachter. Sie hatten zwar Atemschutzmasken aus ihren Wachen mitgenommen, erzählten aber später, die hätten sie nicht benutzen dürfen. Denn inzwischen hatte das Wirtschaftsministerium, in dessen Zuständigkeit die Häfen fielen, die Einsatzleitung an sich gezogen, und es wollte mit Fotos, auf denen Helfer mit Atemschutzmasken zu sehen waren, keine Panik im Lande verbreiten.

Den kontaminierten Quarzsand wehte der Wind auch auf ein anderes Schiff

Wie giftig die Stoffe wirklich waren, zeigte sich sehr drastisch. Zur Ladung der „Oostzee“ gehörte ein spezieller Sand in Säcken, wie ihn Gießereien benötigen. Der Wind wirbelte diesen von der Chemikalie verseuchten Sand durch den Hafen. Hafenarbeiter, die mit den Säcken umgingen, erkrankten. Messungen ergaben, dass aus dem reinen Epichlorhydrin mittlerweile Zerfallsprodukte entstanden waren, die zum Teil noch gefährlicher waren.

Im Seehafen Brunsbüttel lag zu jener Zeit ein Schiff, dessen Lotse sich über Augenbrennen, schlechten Geschmack im Mund, Brennen der Schleimhäute und Hautreizungen beklagte. Auf der Suche nach einer Ursache stellte er fest, dass sich außen am Ruderhaus ein rot-brauner Staub abgelagert hatte. Er kratzte ihn mit einem Blatt Papier zusammen, füllte ihn in ein Marmeladenschraubglas und ließ ihn untersuchen. Er gehörte zum verseuchten Sand der „Oostzee“. Eigentlich wäre es einfach gewesen, die Dämpfe der verdunstenden Chemikalie abzusaugen und sie dann zu filtern. Denn sie ist schwerer als Luft. Stattdessen saugte man die Dämpfe ab und ließ sie einfach in die Umgebung entweichen.

Die schleswig-holsteinische Landesregierung räumt mittlerweile in Zusammenhang mit der „Oostzee“ allein 17 anerkannte Dienstunfälle bei Polizisten ein. Zwei Wasserschutz-Beamte sind inzwischen an einer seltenen Krebsart gestorben. Ihre Witwen klagten jahrelang auf Anerkennung eines Dienstunfalles.

Der Skandal um die „Oostzee“ löste ein Umdenken aus. Das Bundesverkehrsministerium beauftragte die Klassifikationsgesellschaft Germanischer Lloyd, Pläne für ein Schiff zu erarbeiten, das ohne Gefahr für die Besatzung bei der Bekämpfung von Chemieunfällen eingesetzt werden kann.

Dieter Schmidt, stellvertretender Leiter des Havariekommandos in Cuxhaven, sagt jetzt: „Mittlerweile sind vier solcher Schiffe im Dienst, deren Aufbauten gasdicht verschlossen werden können. Sie dienen als Plattformen für die Einsatzkräfte. An Bord sind 13 bis 16 Besatzungsmitglieder. Die können zusätzlich bis zu 48 Spezialkräfte aufnehmen. Außerdem haben 13 Feuerwehren in den norddeutschen Küstenländern Teams für die Bekämpfung solcher Unfälle. Das sind jeweils zehn Mann starke Gruppen, die alle die gleiche Ausbildung erhalten und mit den gleichen Geräten ausgestattet sind. Regelmäßig üben sie die Bewältigung unterschiedlicher Szenarien solcher Unfälle.“

Erst Anfang dieses Monats übten die Besatzungen des Mehrzweckschiffes „Neuwerk“ vom Wasser- und Schifffahrtsamt Cuxhaven auf dem Gastanker einer deutschen Reederei und gemeinsam mit einem Chemieunternehmen und mit Einsatzkräften der Hamburger Feuerwehr die Bewältigung eines Chemieunfalls.