Barbara Kirschbaum praktiziert und lehrt chinesische Medizin. Und entdeckte dabei auch sich selbst. Am Jerusalem-Krankenhaus kümmert sie sich um Frauen nach der Diagnose Brustkrebs. Ein Porträt.

Draußen am Grindelberg tobt der Verkehr. Drinnen, im Sprechzimmer von Barbara Kirschbaum, herrscht eine fast unwirkliche Stille. Besonders dann, wenn sie eine Pause macht, um nach dem noch perfekteren Ausdruck für etwas zu suchen, von dem sie meint, es sei noch nicht greifbar genug.

Lange kreist das Gespräch darum, wie man aus der Förster-Familie in Schleswig-Holstein, in die sie vor 59 Jahren hineingeboren wurde, zur Traditionellen Chinesischen Medizin findet. „Mein Elternhaus war sehr konservativ. Beide Eltern stammten aus Ostpreußen, mein Vater kam nach dem Krieg erst 1953 aus Russland zurück. Da gab es einen Verhaltenskodex, sich sehr an Leistung zu orientieren und einem sehr konservativen Frauenbild zu entsprechen. Dagegen habe ich früh rebelliert, wurde politisch und mit 14 Jungsozialistin, habe für Jugendhäuser demonstriert, war in der Frauenbewegung aktiv. Ich wollte die Welt verbessern. “

In Eimsbüttel besucht sie die Radio- und Fernsehtechnikerschule, „ich hab noch mit Röhren gelernt“. Einen Teil ihrer Lehrzeit arbeitet sie bei Steinway, in der Stereo-Abteilung. Aber sie merkt: Das ist es nicht. Noch ohne zu wissen was, sucht sie etwas anderes.

Ein Jahr lang reist sie, 23 Jahre jung, durch die Welt. Landet in Indien in der Provinz Kaschmir. „Ein Sadhu-Mönch, einer dieser hinduistischen Asketen, hat mich als seine Schülerin angenommen, mit dem habe ich ein paar Monate im Bambus gelebt.“ Mit solch flapsigen Formulierungen schafft Barbara Kirschbaum etwas Distanz zwischen ihrer freimütigen Erzählung und der Person, von der sie handelt. „Dort gab es Tibeter, die er mit Akupunktur behandelt hat. Ich habe zugeschaut, bin ihm dabei zur Hand gegangen und habe gemerkt: Ein Gespür für Energie hab ich schon. Und eines Tages hat er gesagt: Geh zurück, das ist das, was du machen musst.“

Und Barbara Kirschbaum, die Rebellin auf der Suche, tut was er sagt. Warum? „Ich hab im ‚Magic Bus‘ von Teheran zurück nach München jemanden getroffen, dessen bester Freund an diesem College für Chinesische Medizin in England war. So bin ich direkt dorthin gekommen, hab mich da 1977 beworben und wurde angenommen.“ Sie spürt, als Kausalkette ist das nicht leicht zu verstehen. „Ich wäre nie selbst draufgekommen. Ich habe aber in Kaschmir gespürt, dass das ein Weg für mich ist.“

Sie studiert chinesische Medizin und chinesische Heilkräuterkunde, fünf Jahre lang. Finanziert das Studium als Fechtlehrerin im Gymnasium und am Theater. Geht häufig nach China, um sich in Chengdu am Hospital für Traditionelle Chinesische Medizin unter anderem in Akupunktur weiterzubilden. Arbeitet in Kunming, Tianjin und Chengdu in Kliniken.

Als sie ihr Studium aufnahm, war chinesische Medizin im Westen noch etwas sehr Kryptisches. Erst als 1978 ein Journalist, der Ex-US-Präsident Nixon auf einer China-Reise begleitet, eine Blinddarm-Operation mithilfe einer Akupunktur-Narkose durchsteht, rückt sie in den Fokus. Die Debatte um die Wirkmechanismen der chinesischen Medizin ist längst nicht beendet. „Früher wurde man überhaupt nicht akzeptiert und musste sich ständig rechtfertigen. Heute ist das besser. Ich versuche, das energetische Denken auf eine pragmatische Ebene zu bringen.“

Die chinesische Medizin, sagt Barbara Kirschbaum, ist ein System, das sich über 2000, 3000 Jahre entwickelt hat – mit detaillierten Aufzeichnungen über die Behandlung von Krankheiten. Eine Wissenschaft. „Trotzdem wird viel hineingeheimnist. Ich mache das 35 Jahre. Ich weiß, was sie leisten kann, ich kenne auch ihre Grenzen.“ Hier ist sie spürbar in ihrem Element. „Die Schulmedizin konzentriert sich auf die Befunde, auf die Histologie, was in den empfohlenen Therapien mündet. In der chinesischen Medizin dagegen behandelt man den Menschen mit einer Erkrankung – und nicht nur die Erkrankung. So werden in der Diagnose beispielsweise auch die Lebens- und Essgewohnheiten mit eingeschlossen.“

Das Ziel dabei sei es, in Harmonie zu bleiben und Krankheit vorzubeugen. Was sie mit dieser Geschichte verdeutlicht: „Ärzte wurden in China dafür bezahlt, dass der Patient gesund blieb. Er musste Lampen rausstellen, wenn Patienten starben. Wer viele Lampen hatte, hatte also keine Patienten.“

18 Jahre bleibt Barbara Kirschbaum in England. Sie unterrichtet und betreibt ihre eigene Praxis. In den 90er-Jahren beginnt sie, in Deutschland zu lehren, Studiengänge in München, Frankfurt und Bochum aufzubauen, bekommt einen Lehrauftrag an der Universität Witten-Herdecke, „die erste deutsche Uni, die chinesische Medizin ins Medizinstudium integriert hat“. 1994 gründet sie in Hamburg die Schule für chinesische Pharmakologie, die sie bis 2006 leitet.

Was hat sie nach Deutschland zurückgezogen? „Heimweh.“ Dagegen ist auch kein chinesisches Kraut gewachsen. Sie gründet 1994 ihre Praxis in Hamburg, heute praktiziert sie am Grindelberg, gemeinsam mit zwei Kolleginnen. Behandelt Patienten, schreibt und übersetzt Fachbücher, reist für Vorträge um die ganze Welt. Und hat vor eineinhalb Jahren am Jerusalem-Krankenhaus die erste Ambulanz für Brustkrebspatientinnen gegründet, die nach den Ideen der integrativen Onkologie mit der Schulmedizin zusammenarbeitet. „Dort im Mammazentrum kommen seit März 2011 beide Gedankensysteme zusammen.“ Sie wollte, sagt sie, nach 35 Jahren Privatpraxis auch Menschen behandeln, die wenig Geld haben. Die Behandlung in der Ambulanz ist kostenlos, für die Finanzierung sorgt die Dorit & Alexander Otto Stiftung. Die Ottos finanzieren gleichzeitig eine Studie, die gemeinsam mit der Charité in Berlin die Wirksamkeit dieses Konzepts erforscht. Auch um die Krankenkassen davon zu überzeugen.

Am Jerusalem-Krankenhaus kümmert sich Barbara Kirschbaum inzwischen einen guten Teil ihrer Arbeitswoche darum, Frauen nach der Diagnose Brustkrebs durch die lange Zeit der Chemotherapie zu begleiten. „In der Ambulanz für chinesische Medizin habe ich bisher etwa 400 Frauen behandelt, unter anderem mit 4000 Akupunkturbehandlungen.“

Nun hilft chinesische Medizin nicht gegen Krebs an sich. „ Wir behandeln auch nicht den Krebs, sondern die Nebenwirkungen der Chemotherapie, die Frau, ihre Ängste und Beschwerden – Erschöpfung, Schlaflosigkeit, Übelkeit, Gelenkschmerzen.“ Die Akupunktur führt zur Ausschüttung von Endorphinen, körpereigenen Opiaten, besänftigt den Geist, macht ruhig und klar. Sie wirkt stimmungsaufhellend bei Depressionen. Chinesische Medizin versucht die Menschen daran zu erinnern, dass sie sich auch selbst an ihrer Genesung beteiligen sollten. „Es ist wichtig, dass jemand an die eigene Kraft glaubt; auch sie trägt zur Heilung bei. Wir wollen Möglichkeiten der Selbstheilung aktivieren und fördern.“ Selbst wenn der Krebs operiert ist, sagt sie, haben die Frauen noch lange mit all dem zu tun, was sich im Leben dadurch verändert – und das bringt bei jeder andere Probleme mit sich. „So bedeutet ein Teil der chinesischen Medizin auch immer ein Stück Lebensberatung.“

Woher nimmt sie selbst die Kraft dafür? „Von meinen Patienten. Die Arbeit im Mammazentrum ist für mich die bislang beruflich beglückendste und erfüllendste Zeit. Sie ist existenziell, der Austausch ist total ehrlich, wenig Small Talk. Da spüre ich viel Dankbarkeit.“

Sich in der Natur zu bewegen ist für Barbara Kirschbaum, die alleine lebt „und viele wunderbare Freunde hat“, ein wichtiger Antrieb. Sie dreht sich plötzlich um und klappt ihren Laptop auf, der hinter ihr steht. Und holt ein Foto von sich auf den Bildschirm. Da steht die drahtige Frau in mitten stürmischer Wellen auf dem Brett. „Windsurfen – die große Leidenschaft in meinem Leben, neben Kultur, Ausstellungen, Filmen, Musik. Draußen bei Windstärke 8 vor St. Peter-Ording. Da bin ich immer am Wochenende, wenn ich nicht arbeite. Das ist wirklich toll, für mich das Beste, das Größte. Es ist anstrengend, aber ich fühl mich da nur glücklich und ganz frei.“

Und was da draußen zwischen den Wellen für sie gilt, will sie auch ihren Patienten für den Umgang mit Krankheiten vermitteln: Je weniger Angst, desto größer die Kraft, je mehr Angst, desto weniger Kraft.

„Ich würde sagen, dass ich mein ganzes Leben danach gesucht habe, das Leben zu verstehen und gleichzeitig mir und anderen zu helfen. Die Arbeit mit der chinesischen Medizin gibt meinem Leben einen Sinn.“ Ganz zufrieden ist sie auch mit dieser Erklärung noch nicht. Und ganz zum Schluss sagt sie: „Ich hab’s gemacht, weil es richtig ist.“

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, Besonderes für die Stadt leisten, als Vorbildgelten. Barbara Kirschbaum bekam den Faden von Eva Hubert und gibt ihn an Birgit Stratmann weiter