Wenn der erste Frost kommt, muss er das Feld räumen: Warum Grünkohl die Kälte liebt und wie man ihn modern und traditionell zubereitet.

Hamburg/Stade. Vom Mais stehen nur noch verwelkte kleine Stummel auf den Feldern, die Apfelbäume sind abgeerntet und auch sonst sieht es im November auf den Äckern und Anbauflächen rund um Hamburg eher trostlos aus. Spätherbst und Winter sind eben eine Zeit, in der nicht viel Frisches aus der Region auf den Wochenmärkten zu finden ist. Aber es gibt Ausnahmen. Nachtfrost, Nieselregen und November, dieser frösteln machende Dreiklang des Monats läutet für ein besonderes Gewächs die Hochsaison ein: den Grünkohl.

Prall und sattgrün stehen die Pflanzen jetzt da. Die "Palme des Nordens", so wird der Kohl aus der Familie der Kreuzblütengewächse wegen seines Aussehens mit den übereinanderwachsenden Blättern manchmal genannt. Und wie kleine Palmen sehen die Kohlpflanzen dann auch aus, die auf dem Feld der Familie Wiegers in Neukloster bei Buxtehude im Landkreis Stade wachsen. Sobald der erste Frost da ist, beginnt die Ernte. Vieles davon kommt derzeit auch auf Hamburger Wochenmärkten auf den Verkaufstresen. "Wir sind hier so etwas wie der Marktführer in der Region", sagt Alfred Wiegers, 63. In diesen Wochen stehen er und seine Frau Anneliese den ganzen Tag über in einer Halle, rupfen die Blätter, sortieren und packen ab - während der 36-jährige Sohn draußen auf dem Feld mit Helfern die gut drei Kilogramm schweren Pflanzen aus dem lehmigen Boden der Stader Geest holt.

Vor knapp 30 Jahren hat Alfred Wiegers mit dem Anbau von Grünkohl begonnen. Auf kleiner Fläche zunächst. "Es gab aber immer mehr Anfragen - auch von Restaurants", sagt Wiegers. Der Grünkohl wurde quasi wiederentdeckt - von manchen sogar neu entdeckt. Grünkohl mit Kassler, Grünkohl mit grobkörniger Wurst, Grünkohl mit Schweinebauch: Lange waren vielen nur die deftigen Varianten mit dem grünen Kohl bekannt, die in Norddeutschland eine teils jahrhundertealte Tradition haben. Heute liegen auf dem Schreibtisch von Wiegers aber auch Kochbücher der örtlichen Landfrauen, die mit Grünkohl-Lasagne, Grünkohl-Suppen oder auch Grünkohl-Salat experimentieren.

Die Marktnische Grünkohl konnte Wiegers daher in den vergangenen Jahren immer weiter ausbauen und in den Jahresablauf integrieren. Erdbeeren im Sommer, Kürbisse im Herbst, Grünkohl zum Winter - die Spezialisierung auf besondere Produkte sichert das Überleben der Familientradition. Seit 1815 leben die Wiegers' von der Landwirtschaft. Früher gab es im Dorf noch 36 Höfe, heute sind es gerade mal zwei.

Als es besonders heiß war im Juli, hat er die Pflanzen gesetzt - auf den untergepflügten Resten des Erdbeerfeldes. Das sei bester organischer Untergrund, sagt Wiegers. 1,7 Hektar Grünkohl bewirtschaftet die Familie. Rund 400 Hektar beträgt die Anbaufläche in Niedersachsen, das neben Nordrhein-Westfalen größter Grünkohlproduzent in Deutschland ist. 300 Hektar davon besitzt ein einziger Betrieb, der den Kohl in Gefrierpackungen abfüllt. Bei Wiegers sind es Kilobeutel mit frischem Kohl, die er an Gastronomen, Supermärkte und Wochenmarkthändler liefert. Oder direkt auf dem Hof verkauft.

Besonders nach den ersten Frösten, die Grünkohlfans quasi als Startsignal für die Saison gelten. "Dann ist der Grünkohl besonders zart und süß", sagt Wiegers. Dabei ist es gar nicht Frost, sondern vielmehr sind es die niedrigen Temperaturen, die für den besondern Geschmack sorgen, weiß Agrar-Ingenieur Jörg Planer vom Agrar-Informationsdienst (aid). Bei dem derzeitigen kühlen Wetter wird der Stoffwechsel in der Pflanze verlangsamt und sie verbraucht weniger Zucker. Gleichzeitig hält die Fotosynthese an und produziert neuen Zucker - ein Prozess, der nur bei der lebenden Pflanze funktioniert und sich nicht in der Tiefkühltruhe erzeugen lässt. Kalte Frische macht daher süß.

Aber es ist nicht nur der Geschmack, der im Kohl steckt. Grünkohl, so lernt man auf den Internetseiten des aid, beinhaltet besonders reichlich Folsäure, Mineralstoffe und viel Vitamin C - weshalb er in früheren Zeiten als Wintergemüse so besonders wertvoll war, als es gerade für einfache Leute noch eine Mangelversorgung damit im Winter gab. "In de Kohltied kann der Doktor op Reisen gahn", hieß es schon früher.

Interessant, aber noch nicht völlig erforscht sind auch die sekundären Pflanzenstoffe: jene Inhaltsstoffe von Früchten oder Gemüse, die für Farbe, Duft und Aromen sorgen oder Fressfeinde abwehren sollen. Oft sind sie dann auch für Menschen giftig, aber sie können genauso gut auch die Gesundheit stärken oder sogar Krankheiten abwehren. Zum Beispiel, indem sie freie Radikale im Körper bekämpfen. Gerade Pflanzen mit intensiver Farbe wie eben Grünkohl gelten dabei als besonders wertvoll.

Auch in der Antike wusste man offensichtlich schon um solche Effekte. Bei den alten Römern etwa galt Grünkohl als Mittel gegen Schlangenbisse. Und die Griechen sprachen dem Kohl eine Linderung nach Trinkgelagen zu. Eine Wirkung, an die man auch heute noch gerne glauben möchte: Denn schließlich gehört zu einem richtig deftigen Grünkohlessen traditionell in Hamburg auch ein Kümmelschnaps - oder mehrere.