Mounir al-Motassadeq wurde wegen Beihilfe zum Mord an 246 Menschen verurteilt. Verfassungsbeschwerde eingereicht

Hamburg. „Ich bin persönlich unbedingt davon überzeugt, dass er zu Unrecht verurteilt wurde.“ Für einen erfahrenen Strafverteidiger wie Udo Jacob ist das ein beinahe schon ungewöhnlich emotionaler Satz. Und er gilt einem Mann, der in einem der spektakulärsten Gerichtsverfahren des vergangenen Jahrzehnts letztlich zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde: Mounir al-Motassadeq. Der 40 Jahre alte Marokkaner aus dem Umfeld der „Harburger Zelle“ wurde der Beihilfe zum Mord an den 246 Passagieren der am 11. September 2001 abgestürzten Flugzeuge und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung schuldig gesprochen.

Al-Motassadeq, der mit einer Unterbrechung seit 2001 hinter Gittern sitzt, muss seine Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel regulär noch bis 2019 verbüßen. Der Fall lässt Jacob nicht los. Mehrere Jahre lang hat sich der Anwalt um neue Beweise bemüht. Als er schließlich so weit war, lehnte das Hanseatische Oberlandesgericht (OLG) seinen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens im November 2013 ab. Inzwischen hat auch der Bundesgerichtshof seinen Antrag verworfen. Jetzt unternimmt Jacob den dritten Anlauf, um die Unschuld seines Mandanten zu beweisen. Der Anwalt hat Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingelegt, weil er der Auffassung ist, dass das bisherige Verfahren gegen seinen Mandanten gegen das Rechtsstaatsprinzip verstößt. Al-Motassadeq hätte aus Jacobs Sicht nicht verurteilt werden dürfen, weil das Oberlandesgericht in seinem letzten Urteil 2007 eine Zeugenaussage berücksichtigt hat, die vermutlich unter Folter zustande gekommen ist.

„Die Würdigung einer Folteraussage ist verfassungswidrig“, sagt Jacob und stützt sich bei seiner Verfassungsbeschwerde auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Die Richter waren im September 2012 in einem belgischen Fall zu dem Ergebnis gekommen, dass Beweismittel nicht verwendet werden dürfen, wenn ein „reales Risiko“ bestehe, dass sie im Ausland unter Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gewonnen seien. Es muss also nicht bewiesen werden, dass Folter angewendet wurde – was im Zweifel schwierig ist–, es reicht die begründete Vermutung.

Was hat das mit dem Prozess um al-Motassadeq zu tun? Es geht um Ramzi Binalshibh, der zum engeren Kreis der „Harburger Zelle“ um den 9/11-Attentäter Mohammed Atta zählte und vermutlich seit 2006 im US-Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba einsitzt. Der 42 Jahre alte Jemenit, der 2002 nach einem Schusswechsel in der pakistanischen Stadt Karatschi festgenommen wurde, hat al-Motassadeq früh mit dem Satz entlastet, dass der Marokkaner „nie etwas mit 9/11 zu tun“ gehabt habe. Wie ein roter Faden zieht sich die Aussage Binalshibhs durch die Verfahren gegen al-Motassadeq. Im ersten Prozess 2003 war es nur ein Gerücht, dass Binalshibh den Marokkaner entlasten würde. Doch es gelang den Richtern nicht, die unter Geheimhaltung stehenden Aussageprotokolle der US-Ermittlungsbehörden zu erhalten. In ihrer Urteilsbegründung schrieb der OLG-Strafsenat, dass es ein Grund für die Wiederaufnahme des Verfahrens sein könnte, wenn die Aussagen Binalshibhs doch einmal vorliegen sollten.

Der Bundesgerichtshof hob diese erste Entscheidung 2004 auf. Zentrale Begründung: Wenn eine mögliche entlastende Aussage nicht verwertet werden kann, muss unter Umständen der Rechtsgrundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ angewendet werden. Im zweiten OLG-Prozess 2005 erhielten die Richter immerhin eine Zusammenfassung der Binalshibh-Äußerungen. Obwohl bereits über das Thema Folter in Guantánamo diskutiert wurde, gelangten die Richter zu der Auffassung, dass die Anwendung von psychischer und physischer Gewalt nicht erwiesen sei. Sie ließen die Aussagen von Binalshibh zu, schenkten dem Jemeniten aber in der Sache keinen Glauben und verurteilten al-Motassadeq erneut.

Inzwischen hat Jacob über Binalshibhs US-Anwälte eine freiwillige Aussage des Jemeniten erhalten. Das Problem: Die Einlassungen Binalshibhs sind gleich geblieben. Und schon einmal hatte das OLG ihm nicht geglaubt. Jacob stützt sich noch auf eine zweite Aussage: Auch Abdelghani Mzoudi, ein inzwischen freigesprochener Marokkaner aus dem Umfeld der Harburger Gruppe, hat sein Schweigen gebrochen und entlastet al-Motassadeq ebenfalls.

Rechtsanwalt Jacob lässt nicht locker: Wenn die Karlsruher Richter seine Beschwerde nicht annehmen sollten, dann will sich Jacob an den Europäischen Gerichtshof in Straßburg wenden. „Das mache ich auch noch. Als Strafverteidiger geht es mir um Gerechtigkeit“, sagt der Jurist, der für die Begründung der Verfassungsbeschwerde schon seinen Urlaub geopfert hat.