Hamburger Haftanstalten

Gutenachtgeschichten aus dem Gefängnis

| Lesedauer: 7 Minuten
Daniel Herder

Vom Diktiergerät auf CD: Häftlinge lesen für ihre Kinder vor. Das Projekt soll die Nähe der Gefangenen zu ihren Familien stärken. Ein Vater erzählt. Projekt aus England war das Vorbild.

Hamburg. Wenn er seinen Töchtern eine Gutenachtgeschichte vorliest, ist Marc H. weit weg, eingesperrt hinter dicken Mauern und Gitterstäben. Während sich Mia, 7, und Kimberly, 13, (alle Namen geändert) in ihre Betten kuscheln, tönt Papas Vorlesestimme aus einem CD-Spieler.

Marc H. ist nicht da, und irgendwie ist er es doch, zumindest seine Stimme, die seinen Töchtern eine gewisse Nähe zu ihrem Vater vermittelt. Seit 20 Monaten kann Marc H. ihnen nicht mehr selbst aus Büchern vorlesen, kann sie nicht auf die Stirn küssen, sie nicht mehr streicheln, wenn sie einschlafen. Seit November 2012 sitzt Marc H. im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis hinter Schloss und Riegel.

Silvie Hoffmann, 25, und Laura Niederbremer, 24, – zwei Studentinnen des Studiengangs soziale Arbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) – ermöglichen dem 42-Jährigen, die Distanz zu seinen Kindern zu verringern und Papa auch im Alltag präsent werden zu lassen.

„Papas Brieftaube – Geschichten überwinden Mauern“ heißt das Projekt, das seit September in der JVA Billwerder und seit März auch in der Untersuchungshaftanstalt (UHA) am Holstenglacis läuft: Häftlinge lesen Geschichten aus Kinderbüchern vor, die von einem Diktiergerät aufgezeichnet, auf eine CD gebrannt und den Kindern zugeschickt werden. 20 Gefangene aus Billwerder und sechs aus dem Untersuchungsgefängnis beteiligen sich an „Papas Brieftaube“. Aufgezeichnet werden die Geschichten in der anstaltseigenen Kirche, einem Raum der Stille.

„Hier ist die Akustik am besten, und es stören während der Aufzeichnung keine Lautsprecherdurchsagen“, sagt die Seelsorgerin der Untersuchungshaftanstalt, Pastorin Gunhild Warning. Sie arbeitet in diesem Projekt eng mit den beiden Studentinnen zusammen.

Es rasselt, ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Die schwere Stahltür, die den Haftbereich von der Kirche trennt, öffnet sich, und Marc H. steht plötzlich im Raum. Die Justizbeamten, die ihn begleiten, gehen gleich wieder. Die Studentinnen übernehmen. Marc H. – blaues Hemd, perfekt gestylte Frisur, Jeans – will an diesem Tag zum ersten Mal die Geschichten für seine Kinder einsprechen und nimmt an einem Tisch Platz. Wer von hier durch die teilvergitterten Fenster schaut, blickt auf die Sicherheitszäune mit Nato-Stacheldraht. Eine beklemmende Perspektive.

Marc H. schießen die Tränen in die Augen, als er von seinen Töchtern erzählt. Bevor er in Haft kam, sei er ein „Vollblut-Daddy“ gewesen, einer, der sich rund um die Uhr um seine Kinder gekümmert habe, wenn seine Frau unter der Woche berufsbedingt nicht in Hamburg war. Er zog seine Töchter an, brachte sie zur Schule, zum Tennis, zu Freundinnen. „Eigentlich war ich eine Art Ersatzmutter für sie.“ Marc H. will auf keinen Fall darüber sprechen, warum er in U-Haft sitzt, aus Angst, dass sich Rückschlüsse auf seine Familie ergeben könnten, nur so viel: Es war kein Gewaltdelikt. „Ich habe totalen Mist gebaut“, sagt er. Am Ende eines langen Prozesses hatte das Landgericht ihn zu einer Haftstrafe „im zweistelligen Bereich“ verurteilt. In U-Haft blieb er dennoch, weil das Urteil noch nicht rechtskräftig ist. Die Staatsanwaltschaft hat Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt. Bis zur Entscheidung können noch einige Wochen vergehen. Von einem auf den anderen Tag im November 2012 war es vorbei mit dem Familienleben. Seither sitzt der zuvor unbestrafte 42-Jährige in U-Haft, die als die belastendste Form des Freiheitsentzugs gilt. Die Zellen des sanierungsbedürftigen Gefängnisses sind winzig, die Gefangenen bis zu 22 Stunden am Tag eingesperrt, sie dürfen nur 60 Minuten telefonieren – pro Monat. Um das Verfahren zu sichern und Verdunkelungsversuchen vorzubeugen, sind die U-Häftlinge noch besser abgeschirmt von der Außenwelt als die verurteilten Straftäter in den Justizvollzugsanstalten. Dem Druck halten nicht alle stand: Allein zwischen Juli 2011 und April 2012 nahmen sich am Holstenglacis fünf Menschen das Leben. Gerade für sogenannte Erstverbüßer wie Marc H. ist die U-Haft die Hölle – und in seinem Fall dauert sie mit 20 Monaten auch noch extrem lang. Pastorin Warning, weiß, wie sehr die Trennung von der Familie an die Substanz gehen kann.

„In den Seelsorgegesprächen erlebe ich immer wieder, dass kaum etwas so belastend und schädlich für einen Menschen ist wie das Abgeschnittensein von der Familie. Ich habe in der UHA mit vielen Menschen zu tun, die kaum noch soziale Bezüge und darum auch wenig Halt haben. Umso wichtiger finde ich es, bestehende Bindungen zu erhalten und zu stärken“, sagt Warning. „Das Projekt ermöglicht das auf eine besonders liebevolle Weise“, sagt sie.

Einmal wöchentlich hat Marc H. Besuch von seinen Kindern. Die Große weiß, warum ihr Vater eingesperrt ist. Auf keinen Fall aber soll die erst siebenjährige Mia die Wahrheit erfahren, Marc H. will ihr die Scham ersparen. Schuldig gegenüber seinen Angehörigen fühle er sich ohnehin, sagt er. „Schuldig, weil ich meiner Familie den Salat eingebrockt habe und deshalb nicht für sie da sein kann.“

Gerade die Gefangenen der UHA erfinden lieber Legenden, als ihren Kindern reinen Wein einzuschenken. Wer hier einige Monate auf seinen Gerichtsprozess wartet, hofft meist noch auf eine Bewährungsstrafe und eine Rückkehr zur Familie. Mal sind sie angeblich auf einer längeren Geschäftsreise im Ausland, mal auf einer Bohrinsel beschäftigt. Warum sollte Papa von dort nicht eine CD mit Gutenachtgeschichten schicken? Für Kinder hört sich das durchaus plausibel an.

Das Aufnahmegerät läuft, die Stimme von Marc H. klingt zärtlich, in diesem Moment sind die Gitter, die Mauern und die Regularien vergessen. „Kleine Maus, kuschel dich ins Bett“, sagt er und liest mit sonorer Stimme aus einem „SpongeBob“-Buch vor, für die Siebenjährige hat er etwas über Einhörner rausgesucht. Hoffmann und Niederbremer halten sich dabei im Hintergrund, lesen meist selbst etwas, um den Gefangenen nicht zu irritieren.

Für die Initiatorinnen war ein ähnliches Projekt aus England, „storybook dads“, das Vorbild für „Papas Brieftaube“. Silvie Hoffmann absolvierte ein Praktikum bei Integrationshilfe e. V., einem Verein der Straffälligenhilfe, dort entwickelte sie die Idee weiter.

Räusperer, Versprecher oder Huster werden nachträglich am Computer von ihnen aus der Aufzeichnung entfernt. Die Väter bemalen die CD-Hüllen aus Papier außerdem mit Buntstiften, oft widmen sie ihren Kindern rote Herzen und ein paar liebevolle Zeilen. „Es kam aber auch schon vor, dass Gefangene ‚Bob den Baumeister‘ oder einen Power Ranger gemalt haben“, sagt Hoffmann. Wegen der Sicherheitsbestimmungen am Holstenglacis werden die Audio-CDs von Beamten noch einmal abgehört, sofern es eine richterliche Auflage gibt, und erst dann versandt.

Silvie Hoffmann und Laura Niederbremer wollen weitermachen. Die HAW unterstützt ihr Projekt in diesem Jahr mit 4000 Euro. Wie es 2015 aussieht, ist noch offen. „Wir hoffen natürlich auf viele Sponsoren“, sagt Silvie Hoffmann.