Stuttgart-21-Schlichter Heiner Geißler und CDU-Fraktionschef Dietrich Wersich im Abendblatt-Interview über Bürgerbeteiligung bei Großprojekten.

Hamburg. Der 83 Jahre alte CDU-Politiker Heiner Geißler ist ein politisches Urgestein. Seit er 2010/2011 als Schlichter im Streit um den Bau des Bahnhofs Stuttgart 21 tätig war, setzt er sich für eine stärkere Bürgerbeteiligung ein. Im Abendblatt-Interview wirbt Geißler für seine Ideen, die in der eigenen Partei auf fruchtbaren Boden fallen. CDU-Fraktionschef Dietrich Wersich kann sich vorstellen, ein Referendum zur Wiedereinführung der Stadtbahn in Hamburg zu starten.

Hamburger Abendblatt: Sie schlagen vor, Bürger bei Großprojekten grundsätzlich und frühzeitig zu beteiligen. Kann man so Politikverdrossenheit abbauen?

Heiner Geißler: Nein, aber man kann auf diesem Weg Großprojekte in der Zukunft überhaupt noch realisieren. Sonst kommt nichts mehr zustande. Wir brauchen als Industrienation neue Flughäfen, Bahnhöfe, Autobahnen oder zum Beispiel Stromtrassen quer durch die Republik. Aber all das kann man heute nicht gegen die Leute, sondern nur mit ihnen realisieren.

Wie soll die Beteiligung der Bürger konkret aussehen?

Geißler: Tatsache ist, dass wir ein total veraltetes und bürokratisiertes Bau- und Planungsrecht haben, das keine Beteiligung der Bürger vorsieht, sondern nur eine Anhörung. Für mich ist entscheidend, dass die Regierung, also in Hamburg der Senat, den Plan für ein Großprojekt der Öffentlichkeit vorstellt. Etwa ein halbes Jahr sollte diese Informationsphase dauern. Hier gilt totale Transparenz und eine neue Form der Informationsvermittlung: der Faktencheck. Argument, Gegenargument nach der alten Methode: These, Antithese, Synthese.

Wie soll das organisiert werden?

Geißler: Es gibt bei großen Vorhaben sehr schnell Befürworter und Gegner. Wichtig ist, dass alle an einen Tisch kommen – und zwar auf Augenhöhe. Ich habe als Schlichter bei Stuttgart 21 vom damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus verlangt, dass die Bahnhofsgegner aus dem Landeshaushalt 500.000 Euro bekommen, damit sie Sachverständige und Gutachten finanzieren können. Der Bürger, der Betroffene ist ja normalerweise im Nachteil.

Wer soll sich an der Abstimmung beteiligen – in Hamburg zum Beispiel alle Bürger oder nur die Anwohner?

Geißler: Im Prinzip alle. Ich stelle mir das so vor, dass es zunächst eine Abstimmung über die Grundsatzfrage gibt: Wollen wir das Projekt – ja oder nein? Dann kommt der zweite Schritt: Jetzt müssen Alternativen erarbeitet werden. Bei Straßen oder anderen Verkehrsprojekten kann es etwa um unterschiedliche Trassen gehen. Die werden auch zur Abstimmung gestellt. Die Variante mit den meisten Stimmen wird realisiert. So haben die Schweizer den Gotthardtunnel gebaut.

Klingt so, als ob alles noch länger dauern würde als jetzt schon.

Geißler: Im Gegenteil. Die Planungen für Stuttgart 21 wurden 1994 aufgenommen. Wenn man das so gemacht hätte, wie ich vorschlage, dann hätte der Bahnhof 2008 eröffnet werden können.

Was passiert, wenn sich die Bürger nicht dafür interessieren?

Geißler: Dann läuft es eben normal weiter. Dann entscheiden die Parlamente. Nur: Wenn es eine offensive Informationskampagne gleich zu Anfang vor einer politischen Entscheidung gibt, dann wachen die Leute schon auf.

Nicht alles lässt sich gleich zu Beginn im Rahmen eines Faktenchecks festlegen. Es kann unvorhergesehene Kostensteigerungen geben, die die Akzeptanz für ein Projekt schwinden lassen.

Geißler: Das weiß ich nicht. Zum Faktencheck gehört die Finanzierungsfrage. Da kommt nicht nur die Berechnung des Unternehmers, der Stadt, der Gemeinde oder des Ministeriums auf den Tisch. Die andere Seite nimmt das mit ihren Experten unter die Lupe. Es geht um vollständige Kostentransparenz.

Sollte bei Abstimmungen immer auch die finanzielle Auswirkung mit abgestimmt werden?

Geißler: Man kann schlecht sagen: Wir wollen einen Flughafen, aber er darf nur so viel kosten. Es sollte aber über das Projekt mit realistischem Kostenvoranschlag abgestimmt werden.

Glauben Sie im Ernst, dass in dieser Stadt die Autobahn 7 durch die Elbvororte gebaut worden wäre, dass die Elbe vertieft worden oder die Airbus-Landebahn auf Finkenwerder verlängert worden wäre, wenn die Bürger umfassend beteiligt worden wären?

Geißler: Das ist keine Glaubensfrage. Ich weiß natürlich nicht, wie es ausgegangen wäre. Aber warum sollen die Leute eigentlich nicht richtig entscheiden können, wenn sie richtig informiert werden? Dieses ständige Misstrauen dem Volk gegenüber nervt mich. Die Leute sind viel klüger, als das Establishment manchmal denkt.

In Hamburg hat es vor einigen Wochen einen Volksentscheid über den Rückkauf der Energienetze gegeben. Eignet sich das Thema für eine Volksabstimmung?

Geißler: Ja, sicher. Wir werden in Zukunft viele solcher Diskussionen haben. Die Bürger wollen einen ideologischen Fehler der Parteien – auch übrigens meiner eigenen – rückgängig machen: Es war ein Irrglaube zu meinen, man könne öffentliche Dienste privatisieren: Telekom, Krankenhäuser, U-Bahnen usw. Das war purer Thatcherismus. Und für mich gehören die Energienetze zu den öffentlichen Diensten.

Dietrich Wersich:

Ich bin für weniger Staat, was die Durchführung öffentlicher Aufgaben angeht, aber der Staat muss die Regeln bestimmen und deren Einhaltung kontrollieren. Das gehört zur Sozialen Marktwirtschaft. Deswegen waren wir, die Hamburger CDU, gegen den Rückkauf der Netze, weil das bereits ein staatlich stark kontrollierter Bereich ist.

In Hamburg zeigt sich, dass sich bei Volksentscheiden vor allem die gut Ausgebildeten und gut Verdienenden engagieren – so war es beim Thema Primarschule. Ist das ein Problem?

Geißler: Nö. Wenn das so ist, wie Sie sagen, dann war es eben schlecht organisiert. Der Senat hätte bei dem Thema Primarschule von Beginn an für mehr Transparenz sorgen müssen. Am besten wäre es gewesen, wenn der Senat von sich aus die Primarschule als Referendum zur Abstimmung gestellt hätte.

Überzeugen Sie die Argumente von Heiner Geißler und arbeitet die CDU schon am Entwurf für ein Landesgesetz für mehr Bürgerbeteiligung?

Wersich: So weit sind wir nicht, aber wir verstehen die Ideen von Heiner Geißler als Mahnung, deshalb haben wir ihn eingeladen. Er schreibt uns ins Stammbuch: Die Bürger sind immer aufgeklärter und verlangen immer mehr Beteiligung. Übrigens nicht nur bei Großprojekten, sondern auch bei der Gestaltung der Stadtteile. Politik ist gefordert, das zu berücksichtigen und sogar Kompetenzen abzugeben. Gerade wir als bürgerliche Partei sollten das konstruktiv aufnehmen. Sonst gilt der Spruch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Referenden bei Großprojekten sind dann besonders interessant, wenn damit Verfahren beschleunigt werden, weil jahrelanger Rechtsstreit vermieden wird.

Welches Projekt eignet sich für ein Referendum in Hamburg?

Wersich: Wir brauchen den Ausbau öffentlicher Verkehrsmittel, die Stadtbahn könnte eine solche Frage sein.

Was hindert Sie, das Referendum zu starten? Die Grünen sind auch dafür.

Wersich: Fast alle Experten sind der Meinung, dass die Stadtbahn sinnvoll ist, die CDU ist dafür. Aber es muss ein gesellschaftliches Bündnis für ein solches Projekt geben. Vielleicht haben wir nicht nur Umweltverbände, sondern auch die Wirtschaft als Partner. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Hamburg in den kommenden Jahren ein Referendum zur Stadtbahn erleben wird.