Polizei, Jugendhilfe und Wissenschaft wollen künftig schnell und konkret Hilfe für Opfer und Kinder als Zeugen von Gewalt anbieten. Die gezielte Arbeit mit Tätern darf nicht fehlen.

Hamburg. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlägt Alarm: Gut ein Drittel aller Frauen weltweit ist nach WHO-Angaben Opfer häuslicher Gewalt. Auch Hamburg ist alles andere als ein weißer Fleck auf dieser Karte: Allein 2012 registrierte die Hamburger Interventionsstelle pro-aktiv 1630 Opfer von Stalking oder häuslicher Gewalt. Rund 1000 Mal musste die Polizei im Vorjahr zumeist gewalttätige Männer aus der Wohnung verweisen.

Dass Gewalt in der Familie zwar tabuisiert wird, aber ein großes Problem darstellt, ist bekannt. Doch Kinder als Zeugen innerfamiliärer Misshandlungen und die Gewalttäter selbst spielten in den Präventions- und Interventionskonzepten bisher eine eher untergeordnete Rolle. Ein Bündnis aus Experten der Wissenschaft, der freien Jugendhilfe und der Polizei will das jetzt ändern. Und setzt dabei vor allem auf Tempo: Nach innerfamiliären Übergriffen sollen künftig unverzüglich konkrete Hilfsangebote bereitgestellt werden.

„Wir haben großen Handlungsbedarf festgestellt“, sagt Lucas Modler, Geschäftsführer beim Internationalen Bund (IB) in Hamburg. Drei neue Konzepte sollen jetzt im neuen Landesaktionsplan für Opferschutz, der sämtliche Maßnahmen zum Schutz von Gewaltopfern bündelt, fest verankert werden.

„Die Hilfe für geschädigte Zeugen und Opfer kommt zu kurz. Es muss schneller und konkreter gehandelt werden“, sagt Modler. Bisher standen vor allem Kinder im Mittelpunkt, die Gewalt am eigenen Leib erfahren hätten. Für sie ist zunächst meist das Jugendamt zuständig. Das neue Konzept rücke nun Kinder auch als Zeugen von Gewalt in den Fokus. Zu oft werde vernachlässigt, welches Leid Kinder und Jugendliche ertragen müssten, wenn sie Gewalt zwischen den Eltern miterlebten.

Wird der Fall bei der Polizei aktenkundig, sollen die Betroffenen unverzüglich Hilfe erhalten, etwa durch einen spezialisierten freien Träger der Jugendhilfe. Dieser unterbreitet der Familie dann entsprechende Angebote. „Kinder empfinden tatsächlich echten Schmerz, wenn jemand, den sie lieben, Gewalt widerfährt“, sagt Professor Wolfgang Hantel-Quitmann, Familienforscher an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW).

Der Experte weiß: Gewalterfahrungen prägen fürs Leben, sie zeigen sich später in Depression, dissozialem Verhalten und der Bereitschaft, ebenfalls Gewalt auszuüben. Und zum Schläger wird nicht selten, wer in jungen Jahren selbst geschlagen wurde. „Das Risiko, dass die Kinder später selbst einmal zum Täter werden, liegt bei 40 Prozent“, sagt Hantel-Quitmann. Gewalt vererbt sich. Wenn aber professionell gegengesteuert wird, so die Hoffnung der Hamburger Polizei, lassen sich solche Karrieren möglicherweise verhindern – was sich positiv auf den Rückgang der Kinder- und Jugendgewalt auswirken könnte. Dass auch die Polizei im Bereich häusliche Gewalt noch aktiver werden könne, zeige der Blick nach Polen, sagt der Hamburger Polizeipräsident Wolfgang Kopitzsch: „Dort beschäftigt man sich noch intensiver mit dem Thema.“

So paradox es auch klingen mag: Um die Opfer besser vor Übergriffen zu schützen, müsse man gezielt auf die Täter einwirken. „Es geht nicht nur um die Gefährdung, wenn das Kind Gewalt ausgesetzt ist. Man muss die ganze Familie im Blick haben“, sagt Hantel-Quitmann. „Und die beste Gewaltprävention ist die Arbeit mit den Tätern.“ Doch wie bewegt man jemand, der seine Kinder schlägt oder seine Familie ständig demütigt, zur Umkehr, zur Einsicht?

Die Polizei kann zwar bei Gefahr im Verzug für die Dauer von zehn Tagen eine sogenannte Wegweisung aussprechen. Doch meist kehren die Täter danach wieder in die Familie zurück – mit der Folge, dass viele von ihnen erneut zuschlagen, so Modler. Hier setzt das Konzept von IB, Polizei und HAW an:

Sobald die Polizei von innerfamiliären Übergriffen Kenntnis erhält, soll eine Behörde oder ein sozialer Träger eingeschaltet werden. Diese Stellen sollen dem Täter dann Hilfsangebote vermitteln oder unterbreiten. Ob er sie annimmt, sei aber letztlich seine Entscheidung. „Das Ziel ist, dass die Täter aussprechen, was sie durch die Gewalt erreichen wollen“, sagt Modler.

Auf einer Fachtagung der Sozialbehörde am kommenden Montag soll es dann auch um den Gewalttäter selbst gehen. „Es wird eine fachliche Diskussion mit allen Beteiligten – Trägern der Täterarbeit, Opferberatungsstellen sowie staatlichen Stellen wie der Polizei und Justiz – geben, wie Täter künftig noch stärker motiviert werden können, ihr Verhalten zu ändern“, sagt eine Sprecherin der Behörde. Mindestens genauso wichtig sei die Aufklärung über häusliche Gewalt, „die Enttabuisierung des Themas“. Denn in der Öffentlichkeit werde häusliche Gewalt oft nur als solche anerkannt, wenn Blut fließt oder blaue Flecken entstanden sind. Die Grausamkeit zeige sich aber auch in seelischen Misshandlungen, Unterdrückung und Bedrohungen.

Bisher war der Landesaktionsplan Opferschutz nicht mehr als ein Strategiepapier, in dem neuen Konvolut sollen erstmals verbindliche Strategien zur Bekämpfung häuslicher Gewalt formuliert werden. Am Montag werden die Konzepte zusammen mit Vertretern von Schutz- und Beratungseinrichtungen sowie städtischen Experten weiterentwickelt. Im November soll es vom Senat beschlossen und im Dezember der Bürgerschaft vorgelegt werden.