Studie deckt hohes Gewaltniveau in Familien auf. Jedes dritte Kind bekommt Prügel

Jenfeld. Die Worte kommen stockend. Rihanna erzählt vom Streit, den es oft gibt in der großen Familie. Wenn sie wieder auf ihre kleinen Geschwister aufpassen soll und lieber mit ihren Freundinnen zusammen sein will. Wenn sie einfach auf dem Spielplatz nebenan bleibt und nicht nach oben in die Wohnung geht. Wenn es dann laut wird und die Türen knallen. „Weil wir nicht hören.“ Und dann erzählt sie von ihrem Stiefvater und dem Gürtel, mit dem er sie geschlagen hat. Da schießen ihr die Tränen in die Augen, und die Zwölfjährige vergräbt das Gesicht in den Händen. Rihanna ist nicht ihr echter Name.

Den hat sie sich ausgesucht, weil sie nicht möchte, dass ihre Eltern wissen, dass sie über die Schläge spricht. Die Hamburger Rihanna mag die Musik von der anderen Rihanna, die stark ist und weit weg. Sie sagt, dass sie lange niemandem von der Prügel erzählen konnte, auch ihrer besten Freundin nicht. Aber die blauen Flecke waren da. Und als eine Mitarbeiterin der Arche sie angesprochen hat, ist es aus ihr herausgebrochen.

„Gewalt in der Familie spielt eine große Rolle bei den Kindern, die zu uns kommen“, sagt der Leiter der Arche in Jenfeld, Tobias Lucht. Bei manchen sieht man die blauen Flecken. Wie bei Rihanna. Es gebe auch Kinder mit Blutergüssen oder sogar Bisswunden. Nicht immer sind die Zeichen von Gewalt, Aggression und Missachtung sichtbar. Aber fast immer, sagt der Sozialpädagoge, „sieht man die tief empfundene Ablehnung und tiefe Verletzung im Gesicht.“ Nach seiner Einschätzung hat mindestens die Hälfte der 60 bis 100 Kinder zwischen vier und 13 Jahren, die das offene Betreuungsangebot im Hamburger Osten am Tag besuchen, bereits Gewalt erlebt. Oft wollen sie nicht darüber sprechen. „Das Thema ist auch für die Kinder ein Tabu“, sagt Lucht.

Zugleich ist es erschreckender Alltag in Deutschland: Auch 13 Jahre nach Einführung eines gesetzlich verankerten Rechts auf gewaltfreie Erziehung wird fast ein Viertel der Kinder und Jugendlichen von Erwachsenen oft oder manchmal geschlagen. Das hat die „Gewaltstudie 2013“ der Universität Bielefeld im Auftrag der Bepanthen-Stiftung ergeben. Erstmals wurden auch Kinder ab sechs Jahren befragt, insgesamt umfasste die Erhebung 900 Kinder und Jugendliche. „Vor allem Kinder aus prekären Lebenslagen werden häufiger und offenbar auch in höherer Intensität geschlagen als Kinder, deren Status durchschnittlich bis privilegiert ist“, sagt der Studienleiter Holger Ziegler, Professor für Erziehungswissenschaften in Bielefeld. Insgesamt gaben 32,5 Prozent der sozial benachteiligten Kinder an, oft oder manchmal von Erwachsenen geschlagen worden zu sein. 17,1 Prozent sogar so heftig, dass sie blaue Flecken hatten. Zum Vergleich: Bei durchschnittlich (6,6 Prozent) bis privilegiert (1,4 Prozent) gestellten Kindern kommen Schläge weitaus seltener vor.

In der Arche ist immer was los, auch an diesem Ferienmorgen. Gerade ist das Mittagessen vorbei. Einige Kinder sind im weitläufigen Garten unterwegs, andere haben sich in den Spieleraum zurückgezogen. Die meisten sind im großen Sportraum. Auf dem Boden liegen weiche Matten, da darf man nur ohne Schuhe drauf. Es gibt Klettergerüste und viele bunte Kissen. Deborah, Tatjana, Simon und Henry liefern sich eine wilde Schlacht. Es ist laut. Und wild. „Du kriegst mich nicht“, ruft Tatjana und flitzt los. Ausgelassen klingt das und fröhlich. „Der Sportraum ist sehr beliebt“, sagt Leiter Lucht. „Hier können die Kinder alles rauslassen.“

In solchen Momenten scheinen Angst und Kummer weit weg. „Uns ist wichtig, dass jedes Kind willkommen ist und sein kann, wie es ist“, sagt Tobias Lucht, der seit Gründung der Jenfelder Arche nach dem Hungertod von Jessica vor sieben Jahren dabei ist. Bundesweit unterhält das christliche Kinder- und Jugendwerk 15 Einrichtungen in sozialen Brennpunkten, die ausschließlich aus Spenden finanziert werden. Die Bepanthen-Kinderförderung unterstützt die Arche und hat ein Konflikttraining an 13 Standorten gestartet. Auftakt ist jeweils eine Malaktion. Fratzenhaft verzerrte Gesichter von Erwachsenen sind zu sehen und Kinder, die an Luftballons hängen und fliegen. Geplant ist eine Ausstellung und eine Versteigerung einiger Bilder, um auf das Tabuthema Gewalt aufmerksam zu machen. „Gewalt an Kindern in jeglicher Form beeinträchtigt die Entwicklung nachhaltig. Jeder Schlag hinterlässt tiefe Schrammen auf der Seele“, sagt die Schirmherrin der Stiftung, die als TV-Super-Nanny bekannt gewordene Pädagogin Katharina Saalfrank.

In der Jenfelder Arche gab es einen mehrwöchigen Trainingskursus für Jungen und zu Beginn der Ferien einen Projekttag für Mädchen. Sie haben geredet, in Rollenspielen gelernt, wie sie sich gegen Gewalt schützen und ihre persönlichen Grenzen deutlich machen können. „Wichtig ist uns aber vor allem, dass wir den Kindern im Alltag vorleben, wie man Konflikte anders lösen kann“, sagt Arche-Leiter Tobias Lucht. „Wir zeigen ihnen, dass es Erwachsene gibt, die sie stärken und denen sie vertrauen können.“ Auch die Zusammenarbeit mit den Eltern ist eine wichtige Säule im Arche-Konzept. Oft sei die Gewalt ein Zeichen der Überforderung und auch kultureller Unterschiede. Immer wieder kommt es vor, dass das Wohl eines Kindes gefährdet ist und das Jugendamt eingeschaltet werden muss. „Man braucht einen langen Atem, um etwas zu ändern“, sagt Lucht. „Aber man sieht auch, dass es sich bewährt.“

Rihanna lächelt ein bisschen, aber ihre Augen bleiben ernst. Sie kommt jetzt regelmäßig in die Arche. Auch beim Sommercamp ist sie dabei, zu dem die Arche-Kinder heute starten. Sie sagt: „Mein Stiefvater schlägt mich nicht mehr.“ Sie sagt auch, dass sie Angst hat, dass er es wieder tut.