Tunesien und Irland wollen die Hamburger Internet-Plattform abgeordnetenwatch.de kopieren - und auch weitere Länder sollen folgen.

Rotherbaum. Ein kleines Büro am Mittelweg. Sieben junge Leute sitzen dicht an dicht an ihren Schreibtischen. Seit einigen Tagen wird hier nur noch Englisch gesprochen. Schließlich sollen die neuen Kollegen aus dem Ausland, die sechs Wochen lang zum Team gehören, alles verstehen, was um sie herum diskutiert wird. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Gäste so unterschiedlich zu sein, wie es nur geht: Sarah O'Neill ist zierlich, blond, hat hellblaue Augen. Nabil Yahyaoui, der der Politikstudentin am Schreibtisch schräg gegenüber sitzt, ist wesentlich kräftiger, hat pechschwarze Haare, dunkle Augen und lächelt schüchtern.

Wenn sich die beiden auf Englisch unterhalten, klingt in Sarahs Stimme ein starker irischer Akzent durch, Nabils Worte verraten seine tunesische Herkunft. So verschieden sie auch sind, haben sie doch ein gemeinsames Ziel: Sie wollen sich für mehr Demokratie und gegen die Politikverdrossenheit in ihren Heimatländern einsetzen. Wie sie das schaffen können, lernen der Tunesier und die Irin in den nächsten Wochen bei abgeordnetenwatch.de in Hamburg - eine Online-Plattform, auf der sich Bürger ein Bild ihrer Politiker machen und direkt mit ihnen kommunizieren können.

"Genau das soll bald auch in Irland und Tunesien möglich sein", sagt Gregor Hackmack, der die Idee für abgeordnetenwatch.de gemeinsam mit seinem Kollegen Boris Hekele im Zuge einer Wahlrechtskampagne 2004 in Hamburg entwickelte. 2006 ging das Portal in Deutschland online. "Und wir helfen mit allen Kräften, dass dies auch gelingt." Dieses Ziel - endlich mit der Seite online zu gehen - haben sich Nabil und Sarah für September beziehungsweise Oktober gesetzt. Eine ambitionierte Aufgabe, denn für den Aufbau der Seite ist nicht nur eine Programmierung, sondern auch die Übersetzung der Inhalte in eine andere Sprache, viel Recherche und das Erlernen der Moderationsregeln nötig. Besonders für die tunesische Version gestaltet sich die Recherche als schwierig.

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"Man kann nicht einfach alles glauben, was auf den Seiten der Politiker oder den Parteien steht. Alles muss überprüft werden, weil die Lage noch so instabil ist", sagt der 29-jährige Nabil, der sein Informatikstudium in Brüssel absolviert hat. "Außerdem muss sich die Demokratie in unserem Land erst einmal festigen. Da ist viel Unterstützung nötig." Das Land habe auf politischer Ebene noch einiges nachzuholen, sagt Nabil Yahyaoui. Protokolle von Reden aus Sitzungen werden noch nicht von der Regierung zur Verfügung gestellt, Korruption steht immer noch an der Tagesordnung. Auf den Tunesier und sein fünfköpfiges Team in seiner Heimat wartet noch eine Menge Arbeit.

Mit besseren Voraussetzungen kann Sarah O'Neill rechnen: Die Recherche für Irland ist zwar umfangreich, jedoch stellt sich der Studentin aus Dublin viel mehr die Frage, wie sie interessierte Nutzer für die Plattform gewinnen kann. "In unserem Land ist die Politikverdrossenheit sehr weit verbreitet. Die Leute haben einfach keine Lust mehr, Politikern zuzuhören. Nicht zuletzt ist die Euro-Krise daran schuld", sagt die 22-Jährige. "Doch vielleicht steckt gerade in einer Zeit, in der Social Media (soziale Netzwerke im Internet, d. Red.) sich auch immer stärker ausbreitet, ein großes Potenzial in diesem Projekt." Eine weitere aufwendige Aufgabe: Sarah muss die Seite in zwei Sprachen, Irisch und Englisch, übersetzen. Finanziert wird das Projekt derzeit von einer irischen Stiftung. Langfristig soll es jedoch wie das deutsche Vorbild von Kleinspenden finanziert werden.

In Tunesien hofft man eher auf eine starke Unterstützung durch die Diaspora, die bereits während der Revolution die Demokratiebewegung in ihrem Land stützte, und internationalen Unterstützern. Neben der instabilen politischen Lage sieht Nabil Yahyaoui jedoch ein weiteres Problem: Lediglich 40 Prozent der Tunesier können auf das Internet zugreifen. "Ich bin dennoch zuversichtlich, dass wir Erfolg haben können, weil das Internet zu der Revolution einiges beigetragen hat", sagt der Tunesier. Das beste Beispiel dafür hat er in seiner Familie. Seine jüngere Schwester, die politische Aktivistin Amira Yahyaoui, hat auf Twitter die meisten Follower und spielte eine maßgebliche Rolle bei den Umbrüchen im Land. "Wahrscheinlich haben wir dieses Engagement von unserem Vater geerbt", sagt Nabil stolz. Dieser wurde als Richter unter dem alten Regime abgesetzt, das Haus der Familie war verwanzt - er hatte sich zu kritisch gegenüber der Regierung gezeigt. "Heute ist er der Datenschutzbeauftragte Tunesiens", sagt Nabil. "Er hat sich für die richtige Sache eingesetzt." Deshalb war es für den 29-Jährigen auch keine Frage, nach seinem Informatikstudium in Belgien wieder in seine Heimat zurückzukehren. "Da werde ich gebraucht. Und mit meiner Arbeit kann ich das Land weiterbringen - auch wenn es eine große Herausforderung sein wird."

Auch Sarah widmet sich mit viel Herzblut dem Projekt. "Eigentlich muss ich noch ein Jahr studieren, um meine Ausbildung zu beenden", sagt die junge Irin. "Dieses Projekt nebenbei zu stemmen ist gar nicht so einfach." Unterstützung aus Deutschland wird sie zwar auch über die sechs Wochen Praktikum in Hamburg hinaus bekommen. "Wichtig ist aber, dass wir kein Franchise-Unternehmen sind, sondern die Menschen vor Ort ihr eigenes Projekt umsetzen", sagt Gregor Hackmack. Und das Interesse daran reißt nicht ab: Mit dem Kosovo, Serbien, Marokko und Südafrika führt Gregor Hackmack Gespräche über eine mögliche Kooperation.