Eine Studie der Universität Koblenz enthüllt: Ein neuer Fall Chantal wäre in Hamburg jederzeit möglich. ASD-Mitarbeiter sind überfordert.

Hamburg. Der Reformbedarf in Hamburgs Jugendämtern ist hoch. Eine Studie der Universität Koblenz belegt eine Vielzahl von gravierenden Problemen in den insgesamt 35 Allgemeinen Sozialen Diensten (ASD) der Stadt. Die Sozialbehörde unter der Leitung von Senator Detlef Scheele (SPD) und die sieben Bezirke haben die 73 Seiten lange Untersuchung in Auftrag gegeben. Sie soll helfen, den Fall Chantal aufzuarbeiten und Konsequenzen daraus zu ziehen.

Kernbotschaft der Studie ist, dass eine Vielzahl der 342 ASD-Mitarbeiter überfordert ist. Sie müssen zu viele Fälle von vernachlässigten Kindern bearbeiten. Die Zahl der Fälle pro Mitarbeiter sei in einigen Abteilungen "so extrem hoch, dass die Risikolagen einer nicht ausreichenden Überprüfung einer Kindeswohlgefährdung sehr hoch sind", heißt es in dem Bericht. Die Überlastung führe dazu, dass "eine qualifizierte Einschätzung" der Risikolagen nicht möglich ist. Das bedeutet nichts anderes als: Ein weiterer Fall Chantal ist bei dem jetzigen Zustand großer Teile der ASD jederzeit möglich.

Die Arbeitsüberlastung der Mitarbeiter hat der Studie zufolge noch eine weitere Konsequenz. Den Jugendämtern sei es nur noch "sehr eingeschränkt" möglich, Einfluss auf die sogenannten Hilfen zur Erziehung (HzE), also Hilfemaßnahmen von freien Trägern, in den betroffenen Familien zu nehmen. Dies führe zu der "starken Stellung der HzE-Anbieter in Hamburg". Dies sei ein Grund für den rapiden Anstieg der Kosten auf diesem Gebiet. Gab die Stadt dafür 2001 noch rund 133 Millionen Euro pro Jahr aus, sind es heute etwa 100 Millionen Euro mehr.

+++ Uni-Studie: Risiko für neuen Fall Chantal ist in Hamburg sehr hoch +++

Gerade in diesem Punkt wird sich Sozialsenator Scheele bestätigt sehen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Ausgaben im HzE-Bereich nicht weiter steigen zu lassen. Aber auch seine Behörde kommt in der Koblenzer Untersuchung nicht gut weg. Intern stelle sie sich als "eine hoch spezialisierte Expertengruppe mit rivalisierenden und konkurrierenden Themen, Projekten, Versorgungsimpulsen auch für den ASD vor", heißt es. Eine verbindliche, gemeinsame, fachliche Klammer sei nicht klar erkennbar. Spürbar sei zudem ein "heimlicher bis unheimlicher Machtkampf zwischen politischen Bedingungen, Gesetzmäßigkeiten und Interessen". Daraus entstehe ein "Aktionismus, der fast zwangsläufig in den Bezirken zu passivem oder auch manchmal aktivem Widerstand" führe.

Die Studie zeigt also einen direkten Zusammenhang zwischen den Missständen in den Jugendämtern und der Sozialbehörde auf. Eine Trennung, die gerade die Behörde propagiert, scheidet also aus. Danach ist es mitnichten so, dass die Bezirke allein verantwortlich sind.

Wie groß die mögliche Mitschuld am Tod der elfjährigen Chantal sein könnte, geht allerdings nicht aus der Studie hervor. Das Mädchen war am 16. Januar an einer Methadonvergiftung gestorben. Der Drogenersatzstoff stammte von ihren drogensüchtigen Pflegeeltern. Der Fall hatte bundesweit für Entsetzen gesorgt. Die damalige Jugendamtsleiterin und der Mitte-Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) mussten deshalb gehen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen fünf Mitarbeiter des Jugendamts sowie eine Sozialarbeiterin eines freien Trägers wegen des Verdachts der Verletzung der Fürsorgepflicht. Auch gegen die Pflegeeltern dauern die Ermittlungen an.

Laut des Revisionsberichts der zuständigen Finanzbehörde hätte Chantal von der Familie niemals als Pflegekind aufgenommen werden dürfen, wenn die Mitarbeiter des Jugendamts Wilhelmsburg das Regelwerk konsequent angewandt hätten. Ihnen waren die schwierigen Lebensumstände der Pflegeeltern bekannt.

+++ Staatsrat: Mängel beim ASD durch hohe Fluktuation +++

Aus dem Bericht der Koblenzer Wissenschaftler geht auch hervor, dass es Unterschiede zwischen den Allgemeinen Sozialen Diensten gebe. Während einige von ihnen große Probleme hätten, funktionierten andere gut. "Nicht alles ist schlecht, aber zu vieles sehr problematisch", lautet das Fazit. Für die Gewerkschaft Ver.di ist die Studie ein Beleg "für den desolaten Zustand des ASD und die äußerst schwierigen Arbeitsbedingungen".

Ver.di-Fachbereichsleiterin Sieglinde Friess sagt: "Nach den vielen Jahren der öffentlichen Diskussion und der traurigen Vorfälle ist dies ein Armutszeugnis an die Politik und eine Katastrophe für die betroffenen Kinder und Familien." Zwar begrüße sie es, dass die Sozialbehörde gemeinsam mit den Bezirken den Zustand beim ASD "schonungslos" untersuchen lasse. "Damit darf es aber nicht enden. Wir fordern, eine Fallobergrenze für Mitarbeiter einzuführen." Die soll wohl auch kommen, allerdings nicht vor 2013, was Friess wiederum für zu spät hält.

Sozialstaatsrat Jan Pörksen kündigte gestern an, dass eine der Konsequenzen aus dem Bericht die Besetzung der freien Stellen sei. Zwischenzeitlich waren etwa zehn Prozent der 342 Stellen durch interne Fluktuation unbesetzt. Zudem solle ein Rekrutierungskonzept erarbeitet werden, welches auf Dauer für neues Personal sorge. Die Erkenntnisse der Studie waren zudem eine Bestätigung dessen, was schon die bisherigen Untersuchungen der Sozialbehörde im ASD erbracht hätten. Pörksen: "Das Ergebnis hat uns nicht überrascht."