HafenCity und Elbphilharmonie entstehen aus Ideen und politischem Mut. Aber manche Bauwerke sind der Stadt auch erspart geblieben

Hamburg. "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) hat diesen Satz formuliert. Und er wird ihn nicht mehr los. Das Credo des Realpolitikers aus Langenhorn kommt immer dann zum Zug, wenn Utopisten das Rad neu erfinden wollen. Und es stößt an seine Grenzen, wenn es um die Frage geht, wie Zukunft gestaltet werden kann.

Ein Blick in den Brockhaus bringt Erhellendes. Visionis bedeutet so viel wie das Sehen, der Anblick, die Erscheinung. "Medien der Herbeiführung von Visionen, oft mit Ekstase oder Trance", geht es etwas sperrig weiter, "sind Gesang, Tanz, Askese, Selbstkasteiung oder die Einnahme von Drogen." Vielleicht hat Helmut Schmidt in diese Richtung gedacht, als er so manchem Zeitgenossen den Weg zum Doktor nahelegte.

Schmidts Parteikollege Henning Voscherau ist nicht zum Arzt gegangen, sondern ans Elbufer im Hafen, als er in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Visionäres im Blick hatte: seine Pläne für eine HafenCity. Gegen die Stimmen der CDU-Fraktion votierte das Parlament im Sommer 1997 für die Erweiterung der Stadt auf dem Hafenareal zwischen Grasbrook und Baakenhafen. Aus der Vision des Bürgermeisters wurde eine Vorzeigeentwicklung für eine europäische Innenstadt des 21. Jahrhunderts. Ein lebendiges Quartier an einem einmaligen Ort für Wohnungsbau und Gewerbeansiedlung, für Geschäftsleben und Tourismus. Bereits in der Planungsphase lockte das Projekt Investoren aus aller Welt an die Elbe.

Schon immer gab es Visionen und Pläne, die dieser Stadt ein völlig neues Gesicht verpasst haben - oder wollten.

Als der Neubau der Hauptkirche St. Nikolai am 28. August 1874 geweiht wurde, besaß Hamburg mit dem 147,5 Meter hohen neugotischen Turm das höchste Gebäude der Welt.

Noch höher hinaus wollten die Nationalsozialisten. Adolf Hitler persönlich wünschte sich 1935 einen 250 Meter hohen Wolkenkratzer sowie eine Elbbrücke mit einer Spannweite von 750 Metern und 180 Meter hohen Pfeilern - 20 Meter höher als die Spitzen der Kölner Domtürme. Der größenwahnsinnige Verbrecher hinterließ nichts als Ruinen.

Auch die Neue Heimat wollte hoch hinaus. Die Vision des Baukonzerns: ein "Alsterzentrum", das den Stadtteil St. Georg bedeckte. Ein zu der Zeit zwei Milliarden Mark teures Wohn- und Geschäftszentrum, überragt von fünf bis zu 155 Meter hohen Türmen. Heftige Proteste ließen das Himmelsprojekt schnell in sich zusammensinken.

Und so ist es ja oft. Die Menschen wollen hoch hinaus - und landen ruckzuck wieder in der Realität. "Die Vorstellungen, die sich miteinander vertrugen, blieben übrig, die größte Zahl ging zugrunde - und geht zugrunde", hat der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) erkannt.

Wären sämtliche Visionen für diese Stadt umgesetzt worden, würde über das Herrengrabenfleet eine Schwebebahn gleiten, und am Steintorwall läge ein lang gestrecktes Messehaus. Vielleicht stünde die Mehrzweckhalle heute auch auf dem Heiligengeistfeld - und nicht neben dem HSV-Stadion im Volkspark. Eine Vision, die mehrere Jahrzehnte brauchte, um verwirklicht zu werden.

Schneller ging es mit der weltweit einmaligen Vision von einem Konzerthaus auf einem alten Kaispeicher. Die Zustimmung für die Elbphilharmonie erfolgte prompt und war nahezu einhellig. Nun braucht jedoch die Umsetzung eventuell ein Jahrzehnt.

Der ehemalige Bürgermeister Ole von Beust (CDU) hat gesagt, dass es den Politikern heute wohl auch deshalb an politischem Mut - "von mir aus auch Visionen" - fehle, weil man dafür eher bestraft als belohnt werde. "Die Reihenfolge ist immer dieselbe: Erst kommt ein Bericht, in dem alles ganz toll dargestellt wird. Am nächsten Tag gibt es dann einen Hagel von Protesten, und danach folgt tagelang ein kritischer Rattenschwanz", so von Beust. Da würden sich viele, vor allem jüngere Politiker sagen: "Bevor ich mir die Finger verbrenne, sage ich lieber nichts."

Das kann böse nach hinten losgehen. Und ist nicht auf Stadtplanung und Politik beschränkt. Als Chester Carlson, der Sohn eines Friseurs aus Seattle, vor 70 Jahren den Fotokopierer erfand, ging er mit seinen Kollegen "schon mittags essen, um zu feiern". Die Freude blieb lange einseitig. Niemand interessierte sich für seine technische Vision. Mehr als 20 Firmen ließen den stolzen Erfinder abblitzen, darunter IBM und General Electric. Keiner sah einen Markt für die neue Kopiertechnik. Erst die Firma Haloid Xerox war bereit, etwas Neues zu wagen. Und wurde über Nacht zum Weltunternehmen.

Natürlich ist der Grat zwischen Visionen und Schnapsideen manchmal schmal. Visionen verweisen in eine andere Zeit, die kommen kann - aber nicht kommen muss. Die Verhöhnung angeblich unrealistischer Zukunftsträume drückt aber immer auch die Angst vor möglichem Scheitern von Hoffnungen und Idealen aus. Mehr zu wagen hat auch was mit Aufbruchstimmug statt Verdrossenheit zu tun.

Visionen haben etwas mit Leidenschaft zu tun. Mit Fantasie und Mut. Nur wenn keiner mehr Visionen hat, sind wir reif für den Arzt.