In Hamburg wird über die Zukunft von Stadt, Kultur und Kommerz diskutiert. Zehn Beobachtungen in einer Metropole auf der Suche nach sich selbst.

Hamburg. Metropolen sind Versprechungen an den Rest der Welt. Geld, Ruhm, Freiheit, neue Gedanken sind ihre Tauschwaren. Wenn die Anzeichen nicht trügen, steht Hamburg wieder einmal vor einem Paradigmenwechsel und sucht nach Werten. Der Streit um die Zukunft der "Esso-Häuser" am Spielbudenplatz geht deswegen viel tiefer, er ist eine Gespensterdebatte um die Zukunft von Stadt, Kultur, Kommerz. Die Gespenster heißen unter anderem Brauquartier, Tanzende Türme, HafenCity, Ikea. Sie spuken, je nach Blickwinkel als Drohung oder als Verheißung von Stadtentwicklung wahrgenommen, durch Politikerhirne, über den Kiez, durch Wilhelmsburg und die Große Bergstraße. Wer sehen will, wird sehen. Ein Streifzug durch die Stadt.

HafenCity

Das größte Symbol der Veränderung ist die HafenCity. Ein stinknormaler Morgen dort zeigt, wie weit Wille und Vorstellung voneinander entfernt sind. In den Kettenbäcker-Filialen sitzen Rentner, Bauarbeiter, Touristen, Bürokräfte oder Immobilienmakler, die sich ihre Prospekte vorführen. In den Systemgastronomie-Einheiten, die Leben ins Lifestyle-Lego bringen sollen, warten Kellner auf Mittagstischgäste. In den Kubus-Schluchten des Überseequartiers simulieren Gemüsehändlerwagen einen Wochenmarkt, der gewachsene Normalität symbolisieren soll. Fast schon surreal: der Anblick von Kindern, die auf begrasten Naturersatz-Betonwellen spielen.

Kaiserkai

Gegenüber von der Elbphilharmonie macht ein Mitarbeiter der Fassadenglasfirma Gartner bei Brötchen und Kaffee Pause. Er hat schon überall auf der Welt die fränkischen Spezialscheiben installiert und kann die lokale Aufregung nicht so recht nachvollziehen. In China würden ganze Stadtzüge plattgemacht und mit Bürotürmen neu bepflanzt. Seine Firma bestückt auch die Tanzenden Türme, berichtet er.

Reeperbahn 1

Das Fassaden-Make-up an Hadi Teheranis aktueller Großbaustelle zeigt das Dilemma der legendären Adresse auf einen Blick: Die Neigung, das Schräge und Unkonventionelle der Türme ist eben nur: Fassade. Direkt dahinter ist alles, wie es sich gehört und auch gar nicht anders geht: korrekt rechtwinklig und senkrecht. Die Norm siegt, im Großen wie im Kleinen. Als Teherani 2010 Manschettenknöpfe für Montblanc entwarf, wurden Produkt und Designer am Neuen Wall mit diesem Text beworben: "Mit den tanzenden Bürotürmen der Reeperbahn setzt er den Maßstab, um das Stadtviertel ganz neu an seiner ursprünglichen Atmosphäre und Komplexität zu orientieren." Bei Ebay wird ein Paar jetzt für 495 Euro angeboten.

Disneyland

Gestern schrieb der "Times"-Korrespondent Roger Boyes im "Tagesspiegel" über die Berliner Schlafkrankheit: "Die Stadt hat es zugelassen, dass sie unter einer Folge von mittelmäßigen Politikern zu einer zweitklassigen Hauptstadt wurde." Auf Klaus Wowereits Argument, die Touristenzahlen würden die besondere Anziehungskraft belegen, entgegnet er: "Ins Disneyland kommen auch viele Touristen. Touristenzahlen sind nicht die Messlatte für internationales Flair." Kommt alles bekannt vor. In der "Welt am Sonntag" war von Thorsten Kausch, dem Chef der Hamburg Marketing GmbH, zu lesen: "Was wir brauchen, ist eine Vision." Was wir haben, sind viele Verwalter.

Pudel Club

"Elbphilharmonie der Herzen", das war wohl mal. Des Pudels Kern ist gespalten. Die Demarkationslinie zwischen unterschiedlichen Ansichten zum Geldverdienen und politisch Korrektbleiben wurde im Golden Pudel Club am Fischmarkt 27 vor einigen Wochen zwischen Erdgeschoss und dem Bistro in der ersten Etage gezogen. Grund für den Streit unter den Betreibern war offenbar die Frage, wer das Sagen beim Betreiben der Gastronomie hat und zu welchen Bedingungen. Die Trennung wurde der Gemeinde per Newsletter mitgeteilt. Ein gutes Zeichen ist das nicht, wenn selbst im Pudel Club Uneinigkeit übers "Wie weiter?" herrscht.

Brauquartier

Bei Tageslicht betrachtet, ist das Kiez-Areal vom Empire Riverside bis zum Astra-Turm deprimierend. Hinter dem Hotelneubau hofft eine "Star Trek"-taugliche Wippe vergeblich auf Kinderbesuch. Solche Bankrotterklärungen aus Stahl kann man auch vor den Neubauten direkt neben dem Gängeviertel bemitleiden. Diese Reservate heißen auf Behördendeutsch "Spielpunkte", vielleicht auch, weil Spiel plätze zu viel kostbaren Platz wegnähmen.

Große Bergstraße

Wo demnächst ein schwedisches Möbelhaus in den Himmel wächst, klafft jetzt noch eine Baulücke im Boden. Das ganze Ausmaß ist für Passanten unsichtbar, Gucklöcher im Bauzaun erlauben begrenzte Einblicke. Im Nachbarhaus, gegenüber von alteingesessenen Gemüsehökern und Handyverkäufern mit Migrationshintergrund, ist ein Apple-Händler eingezogen. Profitbringer oder Gentrifizierungsvorhut?

Neumühlen

Die Kreativ GmbH Hamburg, zuständig für schönere Arbeitsbedingungen und bezahlbarere Räume, feiert Sommerfest. Toller Blick auf den Hafen, sanft blubbernde Lounge-Musik. Man trifft sich, man netzwerkt. Und wird doch das unangenehme Gefühl nicht los, bei der Verabreichung eines städtischen Placebos an die leidensfähigen Selbstausbeuter der Generation Praktikum dabei zu sein. Auf einem Immobilienportal im Internet wird gerade eine 3,5-Zimmer-Wohnung im "Musikerhaus" in der HafenCity angeboten: 123qm, 442 520 Euro. Unter solchen Umständen Proben und Leben zu kombinieren ist ein Luxus, den sich keine Nachwuchsband aus der Schanze jemals wird leisten können.

Völckersstraße

Für einen Abendtermin wurde ein "gepflegter Hinterhof" in Ottensen zum Treffpunkt der Hamburger Gesellschaft. Ein Hinterhof zwar, aber ein gepflegter - also ungefährlich genug, um sich für ein paar schöne Stündchen dorthin fahren zu lassen. Ein Schmuckdesigner, der in Pöseldorf wohnt, hat in dem ehemaligen Underdog-Stadtteil seine Kollektion vorgestellt.

Astra-Turm

Im Brauquartier findet man solche und solche. Solche, die morgens im Anzug ein- und abends wieder ausfallen, und solche, die dort wohnen, um aus den Klötzen so etwas wie das unbeugsame gallische Dorf zu machen. Dem Bauzaun am Astra-Turm, der auch vor herabfallenden Scheiben schützen soll, haben sie mit viel Liebe zur Ironie eine eigene Facebook-Seite namens "Fiese Hecke" eingerichtet. Im Brauquartier wohnt auch die Kulturmanagerin Julia Staron, die den Stadtteil und seine Geschichte kennt. Ihr ist das Tempo des Wandels viel zu hoch, "meine persönliche Angst ist die Verdrängung". Auch für den Gebrüder-Wolf-Platz lässt sich die Spaß-Resistance immer wieder kleine Symbole des "So nicht!" einfallen. Ein "Jörn-Walter-Platz"-Straßenschild, als Gruß an den Oberbaudirektor beispielsweise. Und wer sich demnächst die Pflasterritzen genauer ansieht, wird dort vielleicht Gras wachsen sehen. Guerilla-Gärtnern à la Reeperbahn. Grün ist Hoffnung, und die stirbt bekanntlich zuletzt.