Ein Abendblatt-Leser fotografierte 1948 den Karneval an der Alster. Schon vier Jahre später war wieder Schluss.

Hamburg. "Der Zug kommt!", ruft der 18-jährige Werner Schäpe seinem zwei Jahre älteren Bruder Harry aufgeregt zu. Sie sehen, wie die bunt geschmückten Wagen langsam die Straße entlangrollen. Sie sehen, wie ihnen eine Horde knapp kostümierter Nixen, euphorisch die Dreizacke durch die Luft schwenkend, entgegentänzelt.

Ein Karnevalszug. Nicht in Köln. Nicht in Düsseldorf. Es ist auch nicht Mainz, das in dieser Szene vielleicht am Straßenrand singt und lacht. Es war Fasching an der Elbe. Hamburg, helau! Im Februar 1948. Damals schlängelte sich in der Hansestadt, zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Karnevalskaravane durch die Innenstadt, vorbei an Zehntausenden von Schaulustigen. Um 13.30 Uhr startete der Umzug am Steindamm, feierte sich über Kirchenallee, Ernst-Merck-Brücke und Glockengießerwall auf die Lombardsbrücke.

Genau dort hat an jenem winterlichen Februartag vor 62 Jahren Werner Schäpe gestanden, gemeinsam mit seinem Bruder. Dicht gedrängt in der Menge am Straßenrand. Gespannt und erwartungsfroh, jeweils die Fotokamera griffbereit um den Hals gehängt. "Nach diesen harten, entbehrungsreichen Kriegsjahren war die Stadt ohnehin im Aufbruch - und dann noch so eine ausgelassene Feier. Das wollte einfach jeder erleben", erinnert sich Werner Schäpe, während der mittlerweile 79-Jährige in seiner Eimsbüttler Rotklinker-Wohnung über alten Fotos sitzt.

Aus Altona waren die Brüder damals in die Innenstadt gekommen. "Heute keine große Sache mehr", sagt der pensionierte Beamte. Aber damals habe man seinen Stadtteil seltener verlassen. Nur zu besonderen Anlässen. Für den ersten Faschingsumzug im Leben zum Beispiel. Ja, vom Karneval hätten sein Bruder und er zwar schon gehört. Zu Hause, wo aus dem Radio häufiger die Schlager des Kölner Liedermachers Wilhelm "Willi" Ostermann dudelten. Die Mutter sei ein Fan gewesen. "Aber selbst erlebt hatten wir so etwas doch noch nie."

Zur sogenannten "Maskerade" seien sie zwar ins Curio-Haus gegangen. Kostümiert wurde dort getanzt, bis um Mitternacht die Masken fielen. Aber zum Zug erschienen die Schäpes damals unverkleidet, nur als Schaulustige. "Von den Zuschauern war damals niemand in einem Kostüm unterwegs", sagt Werner Schäpe.

Überhaupt sei das närrische Treiben von den Norddeutschen ziemlich nüchtern betrachtet worden. "Es kam bei uns Hamburgern leider überhaupt keine Stimmung auf", erinnert sich der Hobbyfotograf. Nur als ein Polizist neckisch in die Höhe geworfen worden sei, habe er vereinzelt Lacher gehört. Aber es gab keine Kamelle. Und leider auch keine Kapelle. "1948 war 'Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien', was für die drei Westzonen stand, der große Hit." Aber angestimmt worden sei der auf der Straße auch nicht.

Und, hat ihm sein erster Karneval nun gefallen? "Ach, ich weiß nicht", sagt Schäpe. "Ich habe mir das angesehen, aber ich konnte es ja mit keinem anderen Festumzug vergleichen." Irgendwie habe er geahnt, dass die Sache mit dem Fasching im Norden nur ein Experiment bleiben würde. "Alle haben staunend am Straßenrand gestanden, aber der Funke ist nun gar nicht übergesprungen."

Aus den Archiven geht hervor, dass es den Karnevalszug durch die Innenstadt, mit der Reeperbahn als Ziel, mindestens bis 1952 gegeben hat. In ebenjenem Jahr äußerten sich die Abendblatt-Leser in ihren Briefen äußerst kritisch: "Man ist ziemlich einhellig der Meinung, dass der Faschingszug ein Fehlschlag war", schrieb damals einer. Die Wagen seien "dürftig zurechtgemacht" gewesen, die Teilnehmer "hölzern", ein anderer. "Vollständig verkrampft" sei der Festzug abgelaufen, meinte ein Herr Koch. Dieser "Reklamezug einzelner Firmen" sei ja wohl ein "Faschingsscherz im Sinne der Narrenfreiheit", lästerte damals ein Herr Löding.

"Irgendwie sind die Hamburger mit dem Karneval nie so ganz warm geworden", sagt Werner Schäpe rückblickend. Er schnappt sich die Fernbedienung vom Glastisch, schaltet den Fernseher ein. "Der Zug kommt", ruft er. Stimmt. Aber am heutigen Rosenmontag eben nur noch im Rheinland.