Trotz des harten Winters und der klirrenden Kälte gehen viele Bedürftige nicht in die Notunterkünfte, sondern schlafen unter freiem Himmel.

Hamburg. Völlig unmöglich, dass in dem Kleiderhaufen an der Ecke Domstraße ein Mensch lebt. "Doch!", sagt Inez knapp und bittet den Fahrer anzuhalten. Reglos liegt das Bündel im Eingang eines Bürogebäudes in der Innenstadt. Neben dem Häuflein lagern drei Plastiktüten. Der Bus stoppt auf dem Standstreifen. Hinaus in die klirrende Kälte. Zehn Grad minus sind es. Eine der kältesten Nächte dieses Winters steht bevor.

Und tatsächlich: Im Scheinwerferlicht sind leichte Bewegungen zu erkennen. Zuerst kommt eine Hand zum Vorschein, sie zittert, dann der Teil eines Gesichts. Atemluft dampft. "Wie wär's mit was Heißem, Herr Klauer?", fragt Inez leise. Der Ansatz eines Nickens und ein paar nicht verständliche Laute sind die Antwort. Ein Brötchen? Fast unmerkliches Kopfschütteln. Inez holt einen Pappbecher Brühe und stellt ihn neben den Schlafsack. Die zitternde Hand und der Teil des Gesichts verschwinden wieder. Der Bus fährt weiter. Schweigen an Bord. Was soll man zu so viel Elend auch sagen? Kälte lähmt die Glieder. Und Frost erfasst die Seele.

Zwei Straßenecken weiter hockt wieder jemand am Rande einer Baustelle - zwischen Abfalltonnen, Müllsäcken und Zeitungen. "Der muss tot sein", sagt die innere Stimme. Erst vor ein paar Tagen ist ein Obdachloser an der Elbe erfroren. Kaum überraschend bei diesen dramatischen Temperaturen. Erneut springt Inez raus. Der Mann will nichts haben. Wirklich nicht? Nein. Notgedrungen wird das Häuflein Mensch zurückgelassen. Und es wird immer kälter.

Weiter geht's. Vorbei an teuren Geschäften mit schicken Schaufenstern. Die vier Helfer an Bord des türkisfarbenen Mitternachtsbusses sprechen nicht viel. Sie haben alle Hände voll zu tun; denn unter der Brücke an der Helgoländer Allee wartet der nächste Großeinsatz. Während Pierre Schots das Team Richtung Rödingsmarkt manövriert, sprechen die drei Frauen hinten die nächsten Schritte ab. Viel Platz haben sie nicht. Brötchen, Brot und Kuchenstücke sind in gestapelten Plastikkörben gelagert. Spenden von Dat Backhus an der Spitalerstraße, einer Bäckerei an der Dorotheenstraße und einem Edeka-Markt an der Osterfeldstraße. Nicht verkaufte Produkte, die dorthin gelangen, wo sie dringend benötigt werden. Um 19 Uhr hatten sich die vier ehrenamtlichen Helfer getroffen. Kaffee, Tee, Kakao und Bouillon werden in riesigen Behältern heiß gehalten. In den Regalen liegen Schlafsäcke, Isomatten und Decken.

Stopp unter der Brücke. Gestalten schälen sich aus Klamottenbergen, schlurfen an den Bus. Wie auch an den anderen fixen Haltestellen kennen die Obdachlosen den Fahrplan des Mitternachtsbusses genau. Sobald sich das Fahrzeug nähert, stehen Bedürftige Schlange. Wenigstens etwas, auf das man sich Tag für Tag verlassen kann. Eine junge Frau mit grün-schwarz karierter Steppjacke bittet um Brötchen und Tee, ein Mann mit roter Signalweste trägt Kaffee und Kuchen für sich und seine Kumpane in die Betonnischen. Unter Kartondeckeln rekelt sich etwas. Daneben öffnet sich der Reißverschluss eines Schlafsacks von innen. Danke sagt kaum einer. "Aber deswegen sind wir auch nicht hier", sagt Fahrer Pierre. "Es bringt Befriedigung, Sinnvolles zu tun." Denn wo pure Not herrsche, müsse handfeste Hilfe her. Schnell, zuverlässig, unkompliziert und anpackend.

"Wir wär's mit einem Frikadellenbrötchen?", fragt Gudrun Freiter einen Gestrandeten mit Rauschebart und grauer Pudelmütze. Der Mann nickt. Mit seinen Beutestücken zuckelt er von dannen und lässt sich neben einem Berg Plastiktüten nieder. Die Buletten hat Gudrun nachmittags daheim in Niendorf gebraten. Außerdem hatte sie zum Start der eiskalten Mission Wurstaufschnitt und Käse im Gepäck. Privat bezahlt. Aber darüber möchte die herzensgute Dame nicht so gerne reden. Lieber über den Nutzen der Aktion. Die Fürsorge auf vier Rädern bringt den rund 1200 Obdachlosen in der Stadt Warmes - in Form von Heißgetränken, aber auch durch einen Hauch menschlicher Nähe. Man kennt sich, selbst wenn nicht viel Zeit zum Klönen ist.

Derweil Besucher warm eingepackt den Michel verlassen und heimfahren, hält der Mitternachtsbus abseits der Hauptkirche. Auch hier sind Menschen "auf Platte", wie die Schlafstätten Obdachloser genannt werden. Die Profis des Mitternachtsbusses wissen genau, wo "Platte" gemacht wird. Unter einem Mauervorsprung ist ein blauer Schlafsack zu erkennen. Ein Mann um die 60 krabbelt heraus und holt sich Brot und Kaffee. "N'Abend, Herr Wolters!", wird er herzlich begrüßt. Wie für andere auch ist der Platz auf dem Asphalt im Schatten des Michel quasi sein Zuhause.

Und warum suchen sie in diesem extrem frostigen Nächten nicht die Notunterkünfte auf? Wie von den Hilfsorganisationen geraten? Plätze dort seien ausreichend vorhanden. "Dort kriegt mich niemand hin", stößt der Mann entrüstet hervor. "Mich kriegt hier keiner weg." Mindestens hundert Hamburger verbringen diese Winternacht unter freiem Himmel. Unter akuter Lebensgefahr. Der Grund für solchen Wahnsinn? Mancher der nicht selten körperlich wie psychisch angeschlagenen Obdachlosen fürchtet Gewalt, Diebstahl oder Alkoholexzesse in Notunterkünften. Andere können ihre Hunde nicht mitnehmen. Und viele haben enorme Scheu vor einer Nacht auf engem Raum. Wer abseits der Norm lebt, handelt nicht unbedingt herkömmlich plausibel.

Herr Wolters zieht sich in seine Ecke zurück, auch die anderen Kunden verschwinden. Pierre wendet seinen VW Crafter. "Ein Lichtblick in der kalten Stadt", steht an der Seite. Wohl wahr. Der 67 Jahre alte Rentner, früher Außendienstmitarbeiter einer Leasingfirma und ebenfalls eine Seele von Mensch, ist vor einem Jahr in das Projekt Mitternachtsbus eingestiegen. Alle vier Wochen, immer sonnabends, rückt er im festen Team aus, um dort haltzumachen, wo die Wohlstandsstadt ihre versteckte, hässliche Fratze offenbart. Womit nicht die Not leidenden Menschen, sondern deren Desaster gemeint ist. Zur Crew zählen weiter Inez Laabs, Geschäftsführerin einer Marketingfirma, sowie Bibliothekarin Roswitha. "Es ist ein schönes Gefühl, für etwas von Nutzen zu sein", meint Letztere.

Sechs Stunden steht das helfende Quartett unter Strom. Im Bus ist es barbarisch kalt. Weil die Türen ständig offen stehen. So wie neben der Trinitatis-Kirche in Altona. Im Hinterhof des Gotteshauses sind Wohncontainer platziert. Kaum ist der Motor des Mitternachtsbusses zu hören, öffnen sich die Verschläge.

Auch am Bahnhof Altona, vor den "Platten" unterhalb der Kennedybrücke letzte Station, harrt ein Dutzend Männer und Frauen im klirrenden Frost aus. Passanten gucken verdutzt, informieren sich - und spenden spontan, als sie vom Sinn der Aktion erfahren. "Draußen schlafen, bei minus zehn Grad, das gibt's doch nicht", meint ein Mann mit braunem Fellmantel.

Doch, das gibt's. Kein Wunder, dass den Helfern auch nach der Heimkehr um 1 Uhr früh noch fröstelig zumute ist. Ein warmes Bett, so eine Erkenntnis dieser Nacht, ist nicht unbedingt ein selbstverständliches Gut.