Der Sozialsenator kritisiert eine Überprofessionalisierung. Und befürwortet Mehr-Generationen-Häuser sowie die umstrittene Kopfpauschale.

Hamburger Abendblatt:

Herr Senator, wenn Sie einmal sehr alt sind, wer wird sich um Sie kümmern?

Dietrich Wersich:

Das weiß ich heute noch nicht. Aber nur 25 Prozent der Bevölkerung sind im Alter pflegebedürftig - und natürlich hoffe ich, dass ich zu den fitten 75 Prozent gehören werde.

Abendblatt:

Aber Unterstützung brauchen alle alten Menschen.

Wersich:

Ja, aber in zehn bis 15 Jahren wird sich die Gesellschaft dramatisch verändern. Die Frage wird sein: Gelingt es uns, die alltägliche Unterstützung, etwa in der Nachbarschaft und durch Freunde und Verwandte, intensiver zu beleben? Eine ausschließlich professionelle Versorgung, wie wir sie heute teilweise haben, wird es in 15 Jahren kaum noch geben können.

Abendblatt:

Also soll sich der Staat zurückziehen?

Wersich:

Einige Experten befürchten eine demografische Katastrophe: Fünf Millionen weniger Arbeitskräfte, dafür sieben Millionen mehr Rentner - das würde bedeuten, dass einige Dienstleistungen, die wir heute haben, nicht aufrechtzuerhalten sind. Ich sehe darin aber vor allem eine Chance: Nämlich eine neue Balance zu finden zwischen professionellen Helfern und staatlichen Leistungen auf der einen Seite, Verantwortung in Zivilgesellschaft und Nachbarschaft auf der anderen Seite. Das heißt: Die Verstaatlichung des Zwischenmenschlichen, die wir in den vergangenen 100 Jahren erlebt haben, dazu eine Überprofessionalisierung des Sozialen, all das müssen wir etwas zurückdrehen.

Abendblatt:

Aber wären das im Grunde nicht Sparmaßnahmen?

Wersich:

Nein. Die Frage wird vor allem sein, wer die Arbeit überhaupt macht - und weniger, wer sie bezahlt. Geld wird vielleicht ausreichend vorhanden sein.

Abendblatt:

Welche Anreize können Arbeitgeber schaffen, um private Pflegeleistungen zu fördern?

Wersich:

In vielen Firmen ist längst bekannt, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht nur bei Angestellten mit Kindern relevant ist, sondern auch für Mitarbeiter mit pflegebedürftigen Eltern. Eine Wirtschaft, in der Arbeitskräfte immer knapper werden, wird sich zunehmend auf die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter einstellen.

Abendblatt:

Muss der Staat nicht unterstützend helfen?

Wersich:

Ja, aber in die richtige Richtung: Wir brauchen nicht für alles Fachkräfte. Man muss nicht studiert haben, um den Haushalt zu machen oder beim Einkaufen zu helfen. Dieser Hang zur Professionalisierung hat die Schwelle für Hilfe unglaublich erhöht. Die eigenen Eltern darf man ohne Ausbildung gerade noch betreuen, die Nachbarn aber schon nicht mehr. In einer bürgerlichen Gesellschaft sollten die Hürden für gegenseitige Hilfe aber niedrig sein.

Abendblatt:

Wo sollen die vielen ungelernten Helfer herkommen?

Wersich:

Eine spannende Frage ist, wie wir unseren dritten Lebensabschnitt sinnvoll gestalten. Durch die steigende Lebenserwartung gewinnen wir viele Jahre hinzu. Hier sehe ich gesellschaftliches Potenzial, sich gegenseitig zu helfen - durchaus auch gegen Bezahlung.

Abendblatt:

Also Rentner helfen ganz alten Menschen?

Wersich:

Auch. Aber auch in anderen Lebensbereichen und eben die Generationen untereinander.

Abendblatt:

Wie soll das funktionieren? Und wer beurteilt, ob eine Person durch ihr soziales Netzwerk versorgt werden kann?

Wersich:

Der Staat soll erst nachrangig eintreten - wenn ein Mensch darauf angewiesen ist, weil soziale Netzwerke nicht greifen. Ein Mehr-Generationen-Haus etwa fördert den Zusammenhalt. Dies voranzutreiben und auf bewährte Strukturen in den Stadtteilen aufzubauen, ist auch Aufgabe einer sozialen Stadtentwicklung.

Abendblatt:

Pflegeleistungen sollen öffentlich bewertet werden. Anbieter wehren sich, Patienten bezweifeln die Glaubwürdigkeit.

Wersich:

Da stehen wir tatsächlich noch am Anfang. Wir wollen den mündigen Patienten und ihren Angehörigen größtmögliche Transparenz bieten. Aber nicht immer hilft der Notendurchschnitt eines Pflegeheims weiter. Für die einen ist der Hotelcharakter wichtig. Die anderen wollen lieber in ihrer gewohnten Umgebung bleiben und nicht in ein gut benotetes Heim in einer Gegend der Stadt, in der sie nie gelebt haben. Hier zeigt sich auch ein Vorteil von Kurzzeitpflege in der Nachbarschaft: Die Menschen können in ihrer angestammten Umgebung bleiben.

Abendblatt:

Dennoch bleibt die künftige Finanzierung der Gesundheit und der Pflege unklar. Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) plant eine Kopfpauschale. Viele glauben, dass dann die Putzfrau ebenso viel für die Krankenkasse zahlt wie der Top-Manager. Ist der Umstieg auf Kopfpauschalen richtig?

Wersich:

Ich finde einen Systemwechsel grundsätzlich richtig, denn entscheidender ist, dass wir genügend Geld für die Gesundheitsversorgung aufbringen. Das Sparen, Streichen und Budgetieren wollen die Menschen auch nicht. Das bisherige System seit Bismarck, nämlich die Arbeitseinkommen zu belasten, funktioniert nicht mehr - auch aufgrund demografischer Veränderungen. Deshalb kann ein System, das mit Prämien arbeitet und den sozialen Ausgleich über Steuern macht, sehr wohl solidarisch sein. Dann können Gutverdiener, die viele Steuern zahlen und vielleicht privat versichert sind, stärker an den Kosten für die Gesundheit aller beteiligt werden.

Abendblatt:

Berechnungen der Krankenkassen gehen davon aus, dass dann 145 Euro von jedem Versicherten im Monat gezahlt werden müssen. Zwischen 20 und 35 Milliarden Euro müssten aus Steuergeldern in den Gesundheitsfonds fließen.

Wersich:

Wir gehen ja schon jetzt auf 14 Milliarden Euro Steuergelder im Gesundheitswesen zu. Aber wenn das Geld nur aus Arbeitsbeiträgen aufgebracht wird, dann wird der Faktor Arbeit zu stark belastet.

Abendblatt:

Trotzdem haben die Leute Angst, dass in Zukunft nach Kassenlage entschieden wird, ob sie etwa eine neue Hüfte im Alter noch bekommen.

Wersich:

Die Ängste verstehe ich, und genau das wollen wir verhindern. Dazu taugt das derzeitige Beitragssystem nicht. Schon die Herzog-Kommission hat festgestellt, dass die Krankenkassenbeiträge auf 27 Prozent vom Monatsgehalt im Jahr 2030 steigen würden, wenn man mit dem alten System weitermacht.

Abendblatt:

Welche Hamburger Krankenhäuser müssen bald schließen, weil Budgets schrumpfen und es zu viele Betten gibt?

Wersich:

Meines Wissens keines. Wir haben stattdessen Fusionen von Krankenhäusern gefördert und gestalten den Wandel, ohne dass Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren oder dass Häuser pleitegehen. Derzeit gibt es sogar einen Job-Boom in der Branche.

Abendblatt:

Die Schweinegrippe hat Hysterie produziert. Auch Sie ließen sich öffentlich impfen. Nun sind Millionen Impfdosen übrig. Was sind Ihre Lehren daraus?

Wersich:

Wir haben zu Recht die damalige Bundesgesundheitsministerin gebremst, die uns drängen wollte, noch über 20 Millionen weitere Dosen des Impfstoffes zu kaufen. Ich bin aber froh, dass diese Pandemie bislang glimpflich verlaufen ist. Wir konnten dadurch weltweit Erfahrungen sammeln - für den Fall, dass es doch noch ernster wird.

Dietrich Wersich ist gelernter Arzt und seit 2008 Präses der Sozialbehörde, deren Staatsrat er zuvor war. Das CDU-Mitglied arbeitete früher auch in der Altersmedizin, bevor es sich vor acht Jahren auf die Politik konzentrierte. Wersich engagierte sich nebenberuflich auch in der Kulturbranche, unter anderem als Geschäftsführer des Altonaer Theaters.