Sozialdemokraten wollen nach vorne blicken. Auch Mathias Petersen, der um die Spitzenkandidatur 2008 gebracht wurde.

Sie haben es sich fest versprochen: keine Grabenkämpfe mehr, kein Wühlen in alten Wunden. Am Tag nach der Veröffentlichung des Muras-Berichts zur größten Krise der Hamburger SPD - dem Stimmzettelklau im Februar 2007 - gaben sich die Sozialdemokraten so versöhnlich wie seit Jahren nicht mehr.

"Wir haben uns alle darauf verständigt, dass der Bericht einen Schlusspunkt setzen und den Mut für einen Neuanfang geben soll", sagte der Bergedorfer SPD-Kreischef Ties Rabe. Deswegen wolle er nicht in dem zehnseitigen Bericht des ehemaligen Harburger SPD-Chefs Harald Muras nach Stellen suchen, die ihm passten, und solchen, die ihm nicht passten. "Der Bericht fällt Urteile, aber seine eigentliche Aufgabe ist, Verständnis für die jeweils andere Seite zu wecken", sagte SPD-Mitte-Chef Johannes Kahrs auch sehr friedvoll gestimmt.

Muras hatte, wie berichtet, im Auftrag von Landeschef Olaf Scholz die Vorgänge rund um den Stimmzettelklau untersucht und politisch bewertet. Darum geht es: Bei der Auszählung der Mitgliederbefragung über die Spitzenkandidatur zur Bürgerschaftswahl 2008 wurde entdeckt, dass rund 1000 Stimmzettel gestohlen worden waren. Der Landesvorstand annullierte die Befragung, obwohl später festgestellt wurde, dass der damalige Landeschef Mathias Petersen uneinholbar vor seiner Herausforderin Dorothee Stapelfeldt lag.

Das Ergebnis des Muras-Berichts ist durchaus niederschmetternd für die damalige Parteispitze. Der Harburger Rechtsanwalt kommt zu dem Ergebnis, dass Petersen "Unrecht geschehen" sei, in dem seine Bürgermeisterkandidatur "in unzulässiger Weise verhindert worden" sei. Trotz des Stimmzettelklaus hätte der Landesvorstand Petersen zum Sieger erklären müssen. Muras' Fazit: Der Landesvorstand habe sich "nicht an die Regeln des politischen Anstands und der Ordnung in der Partei gehalten".

Das ist ein schwerwiegender Vorwurf, den Muras gestern sogleich abschwächte. "Ich habe die Vorgänge nur politisch bewertet und keinen Satzungsverstoß festgestellt oder beschrieben", sagte Muras dem Abendblatt. Ein Parteiordnungsverfahren wegen Satzungsverstoßes gegen einzelne Mitglieder wäre auch überhaupt nicht im Interesse der Übereinkunft, jetzt einen Schlussstrich zu ziehen. "Es wird kein Parteiordnungverfahren geben. Dergleichen stand nicht in Rede", sagte auch Parteichef Scholz. Darin sei er sich auch mit Petersen einig.

Bemerkenswert am Muras-Bericht ist, dass er auch die andere Seite, das Petersen-Lager und Petersen selbst, nicht schont. Im Zuge der Trennung vom damaligen Landesgeschäftsführer Ties Rabe habe sich Petersen "falsch verhalten und schlecht beraten lassen", schreibt Muras. Die Berufung des Nachfolgers Walter Zuckerer habe er "in keiner Weise abgestimmt". Schließlich äußert Muras sogar Verständnis für diejenigen in der SPD, die Petersen für den falschen Bürgermeisterkandidaten hielten. Allerdings hätten sich die innerparteilichen Gegner falscher Mittel bedient, um Petersens Kandidatur zu verhindern. "Der einzig denkbare Weg, ihn loszuwerden, wäre ein ordentlicher Parteitag gewesen. Die politische Führungselite hat versagt", sagte Muras.

Selbst ein unerschrockener Kämpfer wie SPD-Mitte-Chef Kahrs, der sich 2006 als einer der ersten gegen Petersen als Spitzenkandidaten ausgesprochen hatte, gesteht heute scheinbar mühelos Fehler ein. "Im Nachhinein betrachtet, würde ich das eine oder andere anders machen", sagte Kahrs. "Beide Seiten haben Fehler gemacht. Wenn beide Seiten das sehen, ist es gut."

Nach Informationen des Abendblatts gibt es eine Übereinkunft zwischen Scholz und Petersen, das Thema Stimmzettelklau mit der Vorlage des Muras-Berichts zu beenden. Petersen hatte in der Vergangenheit immer wieder betont, dass eine Aufarbeitung der Vorgänge noch ausstehe. Umgekehrt hatte Scholz zur Bedingung seiner Wahl zum Landeschef gemacht, dass alle seinen Kurs, die innerparteilichen Gräben zuzuschütten, unterstützen. Und der Parteichef will die Lehre aus der damals verunglückten Kür des Bürgermeisterkandidaten ziehen. "Ich werde im Sommer oder Herbst 2011 einen Vorschlag für die Spitzenkandidatur machen - nicht vorher", so Scholz.

Nach Ansicht des Hamburger Politikwissenschaftlers Hans J. Kleinsteuber ist der Bericht eher als "therapeutische Sitzung für die Partei" zu werten und mischt sich bewusst nicht in die Ermittlungen im Fall der geklauten Stimmzettel sein. "Es geht vor allem um Motive und Interessen hinter dem Desaster. Dabei entsteht das Bild einer tief gespaltenen Partei, in der fairer Umgangsstil verloren ging. Folglich ist der Diebstahl der Stimmzettel auch nicht als Bubenstreich zu werten, sondern als gezielte Intrige. Mag sein, dass ein Einzeltäter meinte, die Notbremse ziehen zu müssen", sagte Kleinsteuber dem Abendblatt. Motive dafür, Petersen als Spitzenkandidaten zu verhindern und einen Dritten ins Rennen zu schicken, sind laut Bericht in Spitze und Apparat der SPD zu vermuten. Ziel des Berichts sei jedoch nicht, den Diebstahl der Stimmzettel selbst aufzuklären. "Das ist Aufgabe der Polizei", sagte Kleinsteuber. Dabei sind erkennbare wie verdeckte Gegnerschaften in politischen Parteien üblich: "Dass sich beispielsweise Johannes Kahrs offen gegen Petersen ausgesprochen hat, ist nicht ungewöhnlich, so etwas muss eine Partei schon aushalten." Dagegen verurteile der Bericht eindeutig unausgesprochene Machenschaften. Kleinsteuber: "Er ist zu allererst als Handlungsanweisung für eine bessere Zukunft zu verstehen, eine Mahnung an alle Parteimitglieder."