Er muss die Sozialdemokraten aus dem Tief herausholen. Und die Grabenkämpfe beenden.

Wer jetzt bereit ist, Landesvorsitzender der daniederliegenden Hamburger SPD zu werden, muss über eine unendliche Leidensfähigkeit verfügen - zum Beispiel, weil er politisch seine letzte Chance sucht. Oder aber er ist von tiefem Pflichtgefühl für die Sozialdemokratie geprägt und sieht es als selbstverständlich an, seiner Partei in der Stunde der größten Not zu helfen.

Ex-Bundesarbeitsminister Olaf Scholz, der nun zum zweiten Mal zum Hamburger Parteichef gewählt wurde (siehe Text unten), gehört eindeutig der zweiten Gruppe an. Scholz zählt zur engeren Führungsriege der Bundes-SPD und wird auch in Zukunft eine wichtige Rolle in Berlin spielen. Er müsste also seinen verzagten Hamburger Parteifreunden nicht unter die Arme greifen.

Es kommt hinzu, dass die Lage der Partei heute deutlich trister ist als im April 2000, als die Parteitagsdelegierten den Rechtsanwalt zum ersten Mal zum Landesvorsitzenden wählten. Bei der Bundestagswahl am 27. September hat die Hamburger SPD mit 27,4 Prozent (minus 11,3 Punkte) ein Rekordtief eingefahren, drei der sechs Direktmandate verloren. Die einstige Hamburg-Partei, seit acht Jahren in der Bürgerschaft Opposition, zerbröselt.

Was treibt den Mann also an, den Karren aus dem Dreck ziehen zu wollen? Scholz, wie übrigens auch seine Frau Britta Ernst, die Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD-Bürgerschaftsfraktion, haben sich seit ihrer Juso-Zeit in den 80er-Jahren der SPD verschrieben. Ihn als Parteisoldaten zu bezeichnen, trifft es aber nicht, dazu ist er zu intelligent. Scholz ist nun einmal Selbstdenker und kein Nachplauderer. Aber er ist absolut loyal. Von ihm hört man kaum je ein öffentliches Wort der Kritik an seiner Partei oder einem seiner Genossen. Er stellt sich in den Dienst der gemeinsamen Sache, bisweilen bis an den Rand der Selbstverleugnung.

Das war zum Beispiel 2001 so: Fünf Monate vor der Bürgerschaftswahl übernahm Scholz das undankbare Amt des Innensenators - und gab dafür sogar sein Bundestagsmandat auf. Er gab den Hardliner, obwohl das seinem linksliberalen Profil gar nicht entsprach. Er brachte markige Sprüche gegen die offene Drogenszene und stoppte den Stellenabbau bei der Polizei. "Ich bin liberal, aber nicht doof", lautete sein Leitspruch damals. Scholz, der nie Innenpolitiker war, spielte eine Rolle, weil er der festen - richtigen - Überzeugung war, dass genau dieser harte Kurs von der SPD erwartet wurde. Genutzt hat es nicht - die SPD musste nach 44 Jahren in die Opposition.

Auch als SPD-Generalsekretär vertrat Scholz später unbeirrt und gegen anbrausende Kritik auch aus den eigenen Reihen den Kurs von Bundeskanzler Gerhard Schröder in Sachen Agenda 2010. Das Sprechblasenhafte seiner damaligen Statements trug ihm den wenig schmeichelhaften Namen "Scholzomat" ein.

Diese Loyalität ist kein Selbstzweck, sondern folgt durchaus höheren Zielen: Der Ex-Arbeitsminister glaubt ungebrochen an die sozialdemokratische Botschaft, um nicht zu sagen, Sendung. Die lautet unverändert: "Eine sozial gerechte Gesellschaft gibt es nur mit uns!"

Dabei ist der Rechtsanwalt aus Altona kein politischer Altruist - auch nicht, wenn er jetzt das undankbare Amt des Landesvorsitzenden übernimmt. Er weiß natürlich, dass ein erfolgreicher Verlauf dieser beinahe unmöglichen Mission seinen Kurswert in Berlin erhöht. Die SPD, die nach elf Jahren Regierungsjahren im Bundestag schmählich in die Opposition gefallen ist, kann sich nur über die Länder regenerieren. Ein Hamburger Landeschef Scholz, der dem Willy-Brandt-Haus in Berlin einst eine Elb-SPD mit einer realistischen Machtoption in der Bürgerschaft präsentieren kann, hat ein kleines Kunststück fertiggebracht. Diese Triebfeder sollte bei Scholz nicht unterschätzt werden. Der Ehrgeiz des Altonaers ist ausgeprägt.

Bis zur Gesundung des Landesverbandes ist es ein weiter Weg, und Scholz weiß das genau. Die Hamburger Sozialdemokraten haben ihr in Jahrzehnten gewachsenes Selbstbewusstsein verloren, das nicht nur gelegentlich die Grenze zur Arroganz überschritt. Heute, nach acht Jahren in der Opposition, ist die SPD schwächer denn je. Die Partei hat sich in zunehmend kurioseren Grabenkämpfen aufgerieben. Wo das aktive Personal in vielen Fällen nur noch Mittelmaß verkörpert, ragt Scholz an Erfahrung, Fachwissen und strategischem Vermögen zweifellos heraus. Dass er in der Bundesliga spielt, stärkt noch den Respekt, den er bei den Hamburger Parteifreunden genießt.

Was kann er erreichen? Scholz' Rolle wird vor allem die eines Stabilisators sein. Er wird zunächst ohne viel Zimperlichkeit versuchen, die internen Fehden zu beenden. Voraussetzung dazu ist eine Aussöhnung zwischen Ex-Landeschef Mathias Petersen und großen Teilen der Partei. Petersen wurde durch den Stimmenklau bei der Urwahl Anfang 2007 um die Bürgermeister-Kandidatur gebracht. Scholz wird öffentlich erklären, dass Petersen tiefes Unrecht geschehen ist, aber er wird auch verlangen, dass sich der Arzt aus Altona in die Parteidisziplin eingliedert. Hier gilt das Motto des SPD-Altbürgermeisters Henning Voscherau: "Wenn, dann - wenn nicht, dann nicht". Soll heißen: Wenn Petersen mitarbeiten will, dann kann er dies an herausgehobener Stelle tun. Wenn nicht, dann wird Scholz auch so Wohlverhalten verlangen. Der neue Parteichef wird seinem zu Alleingängen neigenden Vorvorgänger die Rolle als frei schwebender Sozialdemokrat kaum durchgehen lassen.

Hamburg ist für Olaf Scholz das Standbein seiner politischen Karriere - das festigt er von jetzt an. Das Spielbein bleibt jedoch auf der Berliner Bühne. Das heißt auch: Eine Spitzenkandidatur bei der Bürgerschaftswahl ist für ihn nicht sonderlich attraktiv. Aus seiner Sicht kann ein Hamburger Bürgermeister politisch nicht viel bewegen. Jedenfalls nicht so viel wie, sagen wir, ein Bundestags-Fraktionschef oder Bundesminister in einem wichtigen Ressort. Das Beschaulich-Repräsentative des Bürgermeisteramts liegt ihm ohnehin nicht. Scholz ist auch Realist. Er weiß, dass er kein Menschenfänger ist, seine Reden reißen häufig nicht mit. Obwohl er an sich gearbeitet hat, wie sich im Bundestagswahlkampf zum Beispiel bei der SPD-Schlusskundgebung auf den Magellan-Terrassen zeigte, als er den Einpeitscher für Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier gab. Trotzdem: Von Scholz geht ein Kältestrom aus, kein Wärmestrom. Er wirkt immer etwas linkisch, ihm fehlt die Lockerheit, gar Schnodderigkeit eines Gerhard Schröder, eines Klaus Wowereit oder auch eines Sigmar Gabriel. Scholz' zweifellos vorhandener Humor, seine feine Ironie und seine Schlagfertigkeit sind nun einmal nicht massentauglich. Kaum vorstellbar, dass er wie Johannes Rau zum Beispiel auf Kommando einen Witz erzählen würde.

Deswegen ist er ein Mann der zweiten Reihe. Eine Spitzenkandidatur bei der Bürgerschaftswahl 2012 kommt für Scholz wohl nur unter zwei Bedingungen infrage. Erstens: Seine Berliner Karrierepläne haben sich zerschlagen. Zweitens: Es gibt keinen geeigneteren SPD-Herausforderer des CDU-Bürgermeisters als ihn. Dann ließe sich Scholz, der loyale Parteiarbeiter und -vordenker, vielleicht doch in die Pflicht nehmen.

Dafür dass die zweite Bedingung nicht erfüllt wird, wird Scholz selbst sorgen. Er wird nicht der Hoffnungsträger, sondern der Königsmacher für die Hamburger SPD sein. Das war er übrigens schon einmal: Er hatte der auch damals orientierungslosen Landes-SPD 2007 den Journalisten und Ex-Kulturstaatsminister Michael Naumann als Spitzenkandidaten empfohlen. Das war kein schlechter Vorschlag, auch wenn es bekanntlich zum Machtwechsel nicht gereicht hat.