Dritter Teil der Gesundheitsserie. Auch immer mehr Schulmediziner behandeln nach den Regeln der fernöstlichen Heilkunst.

Hamburg. Das ist der entscheidende Moment, der Augenblick des "De Qi". Die Lebensenergie, im Chinesischen Qi genannt, kommt am Akupunkturpunkt an. Mal spürt die Patientin Susanne B. ein Kribbeln, mal zuckt ihre Hand, so als ob sie einen winzigen Stromschlag erhält. Die Heilpraktikerin Christine Thiermann, die sich bei ihrer Patientin für die klassische Punktkombination "Die vier himmlischen Tore der göttlichen Gelassenheit" entschieden hat, erkennt an diesen Reaktionen, ob sie den Akupunkturpunkt richtig getroffen hat. Zwischen Daumen und Zeigefinger jeder Hand steckt jeweils eine Nadel und die anderen beiden zwischen großem und zweitem Zeh. Schmerzhaft. Könnte man meinen. Doch Susanne B., die an einem Erschöpfungssyndrom, innerer Unruhe und nervösen Schlafstörungen leidet, empfindet die Behandlung als angenehm. 20 bis 30 Minuten lang stimulieren die Nadeln die Akupunkturpunkte. Gelegentlich dreht die Heilpraktikerin an einer Nadel, um die Wirkung zu intensivieren. Die 45-jährige Reisekauffrau bleibt entspannt liegen. Sie kennt das Prozedere, es ist bereits ihre siebte Sitzung und sie vertraut ihrer Behandlerin. Es tut nicht weh.

Nach einer dreijährigen Ausbildung in Chinesischer Medizin und sechsjähriger praktischer Erfahrung beherrscht Christine Thiermann die Akupunktur nach allen Regeln der Kunst. "Um den Schmerzreiz gering zu halten, muss man die Nadel gezielt und senkrecht durch die Haut bringen. Denn dort sitzen die meisten Schmerzrezeptoren. Wird die Hautbarriere schnell durchdrungen, spürt man die Nadeln kaum noch, sondern nur deren Impulse", sagt sie.

In Deutschland wird die Akupunktur hauptsächlich zur Linderung von Schmerzen angewandt. Seit gut zwei Jahren übernimmt die gesetzliche Krankenkasse bei chronischen Knie- und Rückenschmerzen die Kosten für eine Akupunkturbehandlung. Ein Grund, warum hierzulande die Traditionelle Chinesische Medizin vor allem mit der Akupunktur in Verbindung gebracht wird. Dabei ist das Repertoire des Chinesischen Mediziners viel umfassender. Neben der Akupunktur werden noch weitere traditionelle Behandlungsmethoden angeboten. Die Tuina-Massage sowie Qi Gong, eine Körpertechnik aus Atem- und Bewegungsübungen, und die Moxibustion, eine Wärmebehandlung, die in China oft mit Akupunktur kombiniert wird.

Dabei brennt der Arzt chinesisches Beifußkraut über den Akupunkturpunkten ab. Beide Verfahren, das Stechen und Brennen zusammen angewandt, zhen-jiu genannt, sollen besonders intensiv wirken. Als wichtigste therapeutische Methode gilt die Arzneimittel- oder Kräuterheilkunde.

Die Kunst ist es, aus einem Angebot von 3000 Pflanzenstoffen eine individuelle Arznei zu mischen. "Vor 2000 Jahren war die Chinesische Medizin viel weiter entwickelt als unsere", sagt der Hamburger Neurologe und Experte der Chinesischen Medizin, Dr. Sven Schröder. "Die Oberschicht und die Kaiser stellten hohe Forderungen an ihre Ärzte. Da sie unter enormem Druck standen, fingen sie an, Kräuter zu mischen." Mit Erfolg. Denn gerade in der Kombination potenzierte sich nicht nur die Wirkung, sondern auch das Wirkungsspektrum der Einzelsubstanz. Schröder, der seit einem Jahr das Zentrum für TCM am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf leitet, verordnet am liebsten die recht gewöhnungsbedürftigen Kräuter-Auskochungen. "Denn die sind am wirksamsten", sagt der 48-jährige Mediziner. Nur Kinder und empfindliche Patienten erhalten Tropfenkonzentrate. Dank seiner kombinierten Arznei- und Akupunkturbehandlung konnte er auch seinen Patienten Thomas F. von seinen heftigen Allergien heilen. Der Tischler reagierte allergisch auf den feinen Staub in seiner Werkstatt und war kurz davor, seinen Beruf aufzugeben. Doch seit der Behandlung kann er seine Arbeit wieder ohne Niesen und Augenjucken fortsetzen.

Morgen lesen Sie:

Teil 4: Mit Mistelkraft den Krebs bekämpfen. "Natürliche" Medikamente und Mittel aus der Pharmafabrik können sich bei der Tumorbehandlung gegenseitig ergänzen.