In vierter Generation in Tostedt: Vater und Sohn hatten investiert, Kosten gesenkt, Konzepte überarbeitet. Es hat nichts genutzt

Tostedt. Jetzt kommen sie. Es gab Zeiten, in denen sich nur selten Käufer im Modehaus Wilkens einfanden. Jetzt brummt der Laden. Christian Wilkens, 42, und Heinz Wilkens, 71, stapeln die Ware auf ihrem Arm und tragen sie zur Kasse. Die Kunden kaufen auf Vorrat. Sie gehen mit sechs Jeanshosen aus dem Laden. Selbe Größe, selbe Farbe. Mütter lassen sich Hosen für den Sohn zurücklegen, der später reinschaut. An einem Tag macht das Haus so viel Umsatz wie zuvor in einem Monat. Jetzt kommen die Kunden. Jetzt, da das Modehaus Wilkens zum 31. Januar schließt.

Riesige gelbe Werbeplakate in den Schaufenstern künden vom Ende des Modehauses: Wir schließen endgültig. Total-Räumungsverkauf. Rote Werbeplakate baumeln im Geschäft von der Decke: 20 Prozent Rabatt auf alle Artikel. Der Tod kommt in grellen Farben.

Das Modehaus Wilkens ist ein Traditionsgeschäft in Tostedt, familiengeführt in vierter Generation. Der Großvater von Heinz Wilkens hatte vor 110 Jahren mit dem Verkauf von Lebensmitteln, Männer-, Knaben- und Frauenbekleidung, Teppichen, Schnürsenkeln und Nähgarn begonnen. Die Wilkens-Kinder bauten darauf auf. Mit Erfolg. Sie profilierten die Sortimente, wie es im Marketingdeutsch heißt – verkauften beispielsweise keine Lebensmittel mehr und konzentrierten sich ausschließlich auf Textilwaren. 1976 übernahm Heinz Wilkens die Geschäftsführung. Er tat das, was kluge Ladeninhaber tun.

Geschäfte im Speckgürtel großer Städte können nicht mehr mithalten

Er investierte etwa alle zehn Jahre in die Modernisierung. Alles lief rund. Es waren Zeiten, in denen sich Investitionen noch rechneten, weil die Ladeninhaber sie über den Umsatz wieder reinholten. „Schnee von gestern“, sagt Heinz Wilkens, 71, der Senior. 100 Jahre ging es gut. Jetzt nicht mehr. Das Konsumverhalten hat sich derart verändert, dass es einem Geschäft wie dem Modehaus Wilkens das Genick bricht, ganz gleich, wie viel die Inhaber umbauen, wie oft sie ihr Sortiment überdenken. Man könnte auch sagen, Wilkens sitzt am falschen Ort.

Dabei sind die Voraussetzungen in Tostedt gut. Die Samtgemeinde hat 26.000 Einwohner. Industrieunternehmen haben sich hier angesiedelt. Es gibt ein Amtsgericht und jede Menge kleine Fachgeschäfte und Lebensmittelhändler. Viele Menschen arbeiten und leben hier, die nachher ihr Geld in die Geschäfte in Tostedt tragen könnten. Tun sie aber nicht. „Die Kunden fahren dort Einkaufen, wo es noch drei oder vier Textilanbieter mehr gibt“, sagt Hans-Joachim Rambow, Geschäftsführer des Handelsverbandes Niedersachsen. Und diese Riesenauswahl an Jacken, Blusen und Hosen gibt es vor allem in Großstädten. Die Mönckebergstraße in Hamburg ist gerade einmal vierzig Minuten von Tostedt entfernt, ein Katzensprung in der heutigen mobilen Welt. Insbesondere die Geschäfte im Speckgürtel solcher Metropolen können da nicht mithalten. In der Textilbranche gab es im Jahr 2000 bundesweit noch 35.000 Geschäfte. 2012 ist die Zahl auf 21.000 geschrumpft.

Das liegt auch an der Konkurrenz aus dem Internet. Wenn die Verbraucher auf alle Modemarken mit einem Mausklick zugreifen können, wie soll ein Einzelhändler auf dem Land seine Kunden noch überraschen? Und so ist dies auch eine Geschichte über etwas, was es vor 30 Jahren nicht gab: Online-Einkäufe, Pullover und Hosen in jedem Discounter, Outlets, Rabattaktionen in jeder Form und zu jeder Zeit. „Es braucht eine herausragende individuelle Gestaltung eines Geschäfts, um dagegen bestehen zu können. Das ist verdammt schwer“, sagt Rambow.

Das Modehaus Wilkens hat es 2004 mit einem umfangreichen Umbau versucht. Allein ein Teppichboden für das 500 Quadratmeter große Haus kostet mindestens 40.000 Euro. Es hat nichts genutzt. Genauso wenig wie den Einkauf auszulagern. Zuletzt verkauften die Mitarbeiter nur noch in der unteren Etage, um Kosten zu sparen. Auch das vergebens. Das „Katastrophenjahr 2014“ hat dem Geschäft den Todesstoß versetzt. Der Saisonbeginn, vor allem der Winter, setzte so spät ein, dass die Ware nur noch mit Preisnachlässen verkauft werden konnte. Deshalb ziehen die Geschäftsführer die Reißleine.

Heinz Wilkens, kariertes Sakko, roter Pullover, sitzt in einem schwarzen Ledersessel im ersten Stock des Geschäfts neben leer geräumten Regalen und sieht einen Grund für die schmerzvolle Entwicklung vor allem in der Jagd der Kunden nach Schnäppchen. „Es zählt nur noch der billigste Preis und nicht der größte Wert“, sagt er. „Ich werfe den Menschen nichts vor“, sagt er. Er will aber auch nicht, dass ihm jemand vorwirft, sein Laden sei nicht gut.

Handelsberater Joachim Kotjan aus Schneverdingen bestätigt: „Bei allem Know-how, bei aller persönlicher Beratung, bei allem Einsatz haben die Inhaber-geführten Läden heute keine Chance mehr.“ Der Verbraucher sehe heute gar nicht mehr ein, einen regulären Preis zu bezahlen, weil er so sehr an vergünstigte Textilien gewöhnt sei. „Der Wert der Ware geht völlig verloren.

Verbraucher sind nur noch an rabattierte Textilware gewöhnt

Es ist ein versauter Markt. Ein gigantischer Verfall“, sagt er. Seit 16 Jahren macht er diese Beobachtung. Der Mann hat sich auf Räumungsverkäufe spezialisiert. Böse formuliert verdient er an den Geschäftsaufgaben mit. Heinz und Christian Wilkens haben den Berater aus Schneverdingen engagiert, weil er dafür sorgt, dass das Modegeschäft in den letzten Wochen so viel in die Kassen bekommt, wie es geht. Der Berater weiß, wie und wann die Ware zu reduzieren ist.

Vater und Sohn stehen nun tapfer im Laden und verkaufen die vergünstigten Artikel. Sie begrüßen freundlich die Kunden, viele kennen sie beim Namen. Sie beraten. So wie sie es Jahre und Jahrzehnte getan haben. Bis zum Ende.