Serie über den Apfel, unser liebstes Obst. Heute: Die Sozialgeschichte der Saisonhelfer

Jork. Keine andere Frucht beschäftigt die Menschen so sehr wie der Apfel. Ein Apfel war es, der auf das geniale Haupt des Physikers Isaac Newton fiel und so den Impuls dafür gab, dass er ergründete, warum Bälle immer auf dem Boden landen und nicht im Himmel hängen bleiben. Der Apfel steht für gesunde Nahrung schlechthin, ist Sinnbild für die Ursünde, beliebtes Stillleben-Motiv, Liebesorakel und Symbol der Hoffnung. Grund genug für das Freilichtmuseum am Kiekeberg, dem Apfel eine eigene Ausstellung zu widmen. Für das Abendblatt erläutern Experten des Museums unterschiedliche Facetten der Frucht. Heute: Die Sozialgeschichte der Saisonhelfer.

Patryk Kakala kippt den Apfel vorsichtig nach oben weg. Zack. Ab ist er. Wieder ein Erfolgserlebnis. Der Stiel ist dran. Und damit verhindert der 22-jährige Saisonhelfer, dass die Frucht faule Stellen bekommt, wenn sie in der Kiste lagert. Bleibt der Stiel nicht am Apfel, ist es so etwas wie eine kleine Verletzung, vergleichbar mit einem Kratzer in der Haut eines Menschen, in dem sich Bakterien sammeln könnten. Danach legt Patryk Kakala den Apfel behutsam in die Kiste. Maximal zwei Äpfel hält er in der Hand, damit keine Druckstellen entstehen. Er hat schnell verinnerlicht, worauf es bei der Ernte ankommt.

Deshalb ist es jetzt das dritte Jahr in Folge, in dem Patryk Kakala in der Erntezeit auf dem Obsthof Olters in Jork arbeitet. Es gehört fast zur Tradition seiner Familie, für ein bis drei Monate im Jahr auf dem Obsthof Olters zu arbeiten. Sein Bruder, seine Schwester und sein Cousin sind auch hier. Jetzt helfen sogar einige seiner Kommilitonen in der Erntezeit auf dem Hof in Jork mit. Auf 21 Hektar haben Hinrich und Anke Olters die Apfelsorten Elstar, Braeburn und Jonagored angebaut.

30 Jahre ist es her, dass die Mutter einer Freundin aus dem Kreis in Polen zum ersten Mal auf dem Obsthof Olters Äpfel erntete. In dieser Zeit begannen die Obsthöfe im Alten Land, sich auf den Anbau von Kern- und Weichobst zu spezialisieren und verzichteten auf Viehhaltung und Ackerbau. Der spezialisierte Anbau von Obstplantagen erforderte immer mehr Hilfskräfte. Die helfenden Hände von Rentnern, Hausfrauen oder Schülern reichten nicht mehr aus, um der gestiegenen Nachfrage nach Äpfeln nachzukommen. Schließlich ist die vier- bis sechswöchige Ernte die kostenintensivste Zeit im Jahr für die Obstbauern.

In den 60er Jahren bedienten sich die Obsthöfe zunächst meistens türkischen Gastarbeitern. Inzwischen kommen die Pflücker überwiegend aus Polen, Rumänien und Bulgarien. Sie genießen die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit. Das heißt: Eine Genehmigung, um eine Saisonarbeit in der Landwirtschaft anzunehmen, ist nicht mehr notwendig.

Charakteristisch für die heutige Generation der Erntehelfer ist, dass sie zu den Pendelmigranten zählen. Anders als noch viele Türken in den 60er Jahren, halten sie sich nur während der Ernteperiode in Deutschland auf und kehren dann wieder in ihr Heimatland zurück.

Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts trat dieses Phänomen der Wanderarbeiter auf. Getrieben von der Geldnot suchten Menschen aus Deutschland Arbeit im fremden Holland – die so genannten Hollandgänger. „Die Not zwang sie, ihre Familie zurückzulassen und in ein fremdes Land mit einer unbekannten Sprache zu ziehen“, sagt Carolin Keßler, Kuratorin der Ausstellung „Der Apfel – Kultur mit Stiel“ im Freilichtmuseum am Kiekeberg.

Früher wie heute begeben sich die Wanderarbeiter nicht alleine auf die Reise. Dass Freunde, Familienmitglieder und Bekannte die gleiche Sprache sprechen, erleichtert die Zusammenarbeit. Es beugt Missverständnisse vor, und gibt den ausländischen Mitarbeitern Halt. „Ein gutes Betriebsklima ist wichtig“, sagt Obstbäuerin Anke Olters, 58. „Man will morgens mit einem Lächeln auf den Hof kommen.“

Zudem macht es das Zusammenleben auf dem Hof einfacher, wenn sich die Erntehelfer bereits untereinander kennen. Patryk Kakala teilt sich mit drei anderen Helfern eine Dreizimmerwohnung mit Bad und Küche auf dem Obsthof. Auf größeren Höfen werden auch Wohncontainer aufgestellt. Auch auf dem Feld müssen die Helfer Hand in Hand arbeiten können. Die Arbeit unterliegt einem festen Rhythmus von montags bis freitags. Sie beginnt um 7 Uhr und dauert bis 18 Uhr mit einer einstündigen Mittagspause.

Die Kuratorin Carolin Keßler hat in ihrer Recherche zur Apfelausstellung vor allem eins gelernt: „Die Obstbauern wollen mit Menschen arbeiten, die wollen und nicht mit solchen, die sollen.“ Sie müssen sich sicher sein, dass jeder sein Bestes gibt.

Dafür zahlen Anke und Hinrich Olters jedem Erntehelfer pro Tag 65 Euro. Mit dem Geld finanziert sich Patryk Kakala sein Umwelttechnologie-Studium in Koszalin, Polen. Denn oftmals fehlt es den Familien an Geld, um alle Kinder im Studium zu unterstützen. So viel Spaß Patryk Kakala die Arbeit auch macht, seine berufliche Zukunft sieht er in Polen. „Es ist nicht mein Traum, nach dem Studium weiter Äpfel zu pflücken“, sagt er.