An diesem Sonntag ist Welt-Alzheimer-Tag. Dies ist die Geschichte eines betroffenen Paares aus dem Landkreis Harburg

Buchholz. Ratlos schaut Wolf Carstensen seine Frau Eva an und fragt, wo sein Ball gelandet ist. Dabei ist es gerade mal zwei Minuten her, dass er ihn abgeschlagen hat. Eva Carstensen zeigt ihm den Ball vor ihnen im Gras auf dem Golfplatz in Holm-Seppensen. Sie erinnert ihn, einen anderen Schläger zu nehmen. Nicht den Sandschläger, den Putter. Sie erinnert ihn, seine Golftasche abzustellen. Sie erinnert ihn, dass er jetzt an der Reihe ist. Alzheimer hat aus ihrem Mann einen anderen Menschen gemacht.

Mehr als eine Million Menschen in Deutschland leiden unter Alzheimer. Anlässlich des Welt-Alzheimertags an diesem Sonntag, 21. September, erzählt das Hamburger Abendblatt die Geschichte von Wolf Carstensen, 72, der an Alzheimer erkrankt ist, und seiner Frau Eva, 61. Weil das Paar nicht erkannt werden möchte, wurden die Namen geändert und auch der Wohnort bleibt ungenannt.

Seit sechs Jahren stehen Wolf und Eva Carstensen regelmäßig auf dem Golfplatz. Sie sind geübt. Wenn Wolf Carstensen schlägt, stellt er sich breitbeinig auf, rückt sorgfältig seine Füße zurecht, schwingt den Schläger probeweise ein paar Mal durch die Luft und lässt ihn wieder kurz vor dem Golfball zum Halten kommen. Stille, Konzentration. Zack, Klack. Der Ball fliegt. Motorisch hat die Alzheimer-Krankheit ihn verschont, aber wenn man ihn fragt, welches Handicap er hat, kann er es nicht beantworten.

Bis zur Diagnose lebten Wolf und Eva Carstensen ein ziemlich sorgloses Leben. Eigenes Haus, zwei Kinder, Ferienhaus am Mittelmeer. Als er noch arbeitete, kam er oft erst um 22 Uhr nach Hause. Sie kümmerte sich um die Kinder. Er war für die Geldanlagen verantwortlich, sie für den Haushalt. Nach dem Ausstieg aus dem Berufsleben taten sie das, was moderne Paare im Seniorenalter tun. Sie teilten sich ihre Aufgaben auf. Er saugte Staub und bediente die Spülmaschine. Sie kümmerte sich um den Garten und um die Wäsche. Er spielte Golf und malte Bilder. Sie joggte im Wald und spielte Tennis. Gemeinsam gingen sie Tanzen und fuhren Ski. Jeden Urlaub verbrachten sie gemeinsam.

Zuerst waren es nur Kleinigkeiten. Er vergaß, die Spülmaschine anzustellen. Im Winter zog er die dünne Hose an statt der dicken. Er schaute irritiert auf den Zettel, auf dem ein Termin stand, konnte sich aber partout nicht erinnern, wohin es gehen sollte. Er vergaß die Zeit. Er fragte. Oft und immer wieder. Manchmal verlor sie die Nerven. „Wie oft habe ich dir das schon gesagt.“

Sie brach zusammen, als er allein im Auto zum falschen Arzt fuhr, als er von der Wohnung ihrer Tochter nicht mehr nach Hause fand. Inzwischen, seitdem die Krankheit den Namen Alzheimer trägt, hat sie gelernt, sich zu beherrschen. Sie fährt nicht mehr aus der Haut, wenn er das Auto nicht gewaschen hat, wenn er dreimal am Tag sein Hemd wechselt, wenn er um Worte ringt, wenn er seinen Golfball nicht wiederfindet. Er vergisst es ja nur. „Ich muss schlucken“, sagt sie. Wenn sie seine wiederkehrenden Fragen beantwortet, bekommt ihre Stimme manchmal diesen Unterton, den Mütter haben, wenn sie mit ihren Kindern reden.

Schlucken und verantworten. Entscheidungen fällt Eva Carstensen jetzt alleine. Sie bestimmt, ob sie in den Skiurlaub fahren oder nicht. Sie wacht jetzt über das Geld, über die Mahlzeiten, über das Auto. Sie entscheidet, ob sie grüne Bohnen essen, wie viel Geld sie wo anlegen. Sie verhindert, dass er sich ans Steuer setzt. Sie lässt die Autoschlüssel nebenbei verschwinden. Sie überlegt sich ganz genau, wann sie ihm was sagt. Eva Carstensen hat gelernt, alles vorzubereiten. Sie stellt ihm den Staubsauer hin, den Rasenmäher und den Eimer zum Fenster putzen.

„Er aber lebt so wie man eigentlich leben sollte. Für ihn gibt es kein Gestern und kein Heute“, sagt sie. Die beiden sind sehr unterschiedlich. Schon immer gewesen. Er: zurückhaltend, still, bedächtig. Sie: temperamentvoll, offen, diskussionsfreudig. Das Paar ist das beste Beispiel dafür, dass sich Gegensätze anziehen. Die tiefe Zuneigung und Freundschaft, die die beiden verbindet, ist immer noch zu spüren. Sie scherzen, sie ziehen sich gegenseitig auf. Trotz Alzheimer. Wenn sie von ihren paranoiden Anflügen spricht, davon, nicht gerne beim Sport beobachtet zu werden, schmunzelt er. „Armes Mädchen“, sagt er und gibt ihr einen Kuss.

Er hat sie gerne um sich. Wenn sie mit mehreren Leuten auf den Golfplatz gehen, will er nur mit ihr über das Gras schlendern. Wenn sie sich zu Hause an den Computer setzt, gesellt er sich dazu. Trinken sie einen Kaffee, streichelt er ihren Arm. Er will an ihrem Leben teilhaben, gerne bei ihr sein. „Er lebt durch mich“, sagt sie.

Das nimmt ihr manchmal die Luft zu atmen. Der Alltag kostet sie so viel Energie. Sie braucht Ruhe, will allein sein. Deshalb hat sie ihn bei einer Malgruppe der Alzheimer Gesellschaft in Hamburg angemeldet. Und jetzt kommt einmal pro Woche eine Frau, die hilft und sich um ihn kümmert. Aber wenn Eva Carstensen nach Hause kommt, plagt sie das schlechte Gewissen. Sie wird das Gefühl nicht los, nie genug zu tun. Deshalb bekommt sie jetzt psychotherapeutische Unterstützung.

Mit ihrem Mann spricht sie aber nie über die Krankheit. Probleme hat Wolf Carstensen noch nie gerne thematisiert. Er sieht nicht den Sinn darin, sich mit Alzheimer zu beschäftigen. Wenn man ihn darauf anspricht, sagt er: „Was soll ich darüber nachdenken?“ Eva Carstensen hat sich daran gewöhnt, einen Mantel des Schweigens über die Krankheit zu legen. Sie will, dass es ihm gut geht. Und sie hat gelernt, geduldig zu sein. Wenn sie in den Tag starten, lässt sie sich und ihm morgens viel Zeit. Und sie hält die Routine ein.

Eva Carstensen weiß, dass sie dankbar sein sollte, für das, was sie alles gemeinsam machen können. Die Krankheit befindet sich in einer Phase, die Experten Frühstadium nennen. Die Medikamente haben geholfen. Sie gehen Tanzen. Sie spielen Golf. Er malt Bilder. Sie geht Einkaufen. All die schrecklichen Szenen, von denen andere Angehörige berichten, kennt sie nicht: Weder beschimpft er sie noch wird er aggressiv.

Aber die Krankheit macht ihr Angst. Neulich sagte er, er hätte gar keine Tochter. Vor ein paar Wochen wachte er nachts auf und fragte: „Wo sind die anderen, die hier wohnen? Wohnst du auch in diesem Haus?“ Kurz darauf schlief er wieder ein. Sie nicht. Sie fragt sich, wie viel die Krankheit schon von ihm genommen hat. Und sie weiß, dass noch mehr auf sie zukommen wird.