Bei seiner Infoveranstaltung zum geplanten Flüchtlingscamp Bostelbek war das Bezirksamt in der Defensive

Heimfeld. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, wie sehr die Pläne für die neue Flüchtlingsunterkunft Am Radeland die kleine Siedlergemeinschaft Bostelbek in Aufruhr versetzt, so lieferte ihn die Infoveranstaltung des Bezirksamts am Dienstagabend im Vereinshaus des Bostelbeker SV. Mehr als 120 Menschen drängten sich in dem viel zu kleinen Lokal.

Dass die Vertreter des Bezirksamts Harburg, der Hamburger Sozialbehörde (BASFI) und des städtischen Unternehmers fördern & wohnen (f & w) einen schweren Stand haben würden, war von vornherein klar. Allzu offensichtlich ist das Kommunikationsdesaster rund um die Errichtung eines Containerdorfes mit zehn zweigeschossigen Pavillonbauten für bis zu 216 Menschen. Denn vom Votum der BASFI hatten die Siedler nicht etwa durch konkrete Vorabinformationen erfahren, sondern durch Rodungsarbeiten auf der Pferdewiese im Straßendreieck Am Radeland/Bostelbeker Damm/Moorburger Bogen am 19. Februar. Dieses Vorgehen empfanden die Anwohner als Affront und hatten am vergangenen Sonntag spontan eine Bürgerinitiative gegründet.

Deren Vorsitzende und Gesicht ist Ineke Siemer. Mit ihrer offiziellen Stellungnahme gleich zum Auftakt der gut zweistündigen Veranstaltung brachte sie die auf dem Podium versammelten Funktionsträger rhetorisch geschliffen, ausdrucksstark und faktenreich endgültig in eine für den Rest des Abends nicht mehr umzukehrende Defensive.

„Durch die mangelnde Informationspolitik des Bezirks und die vorgreifenden Rodungsarbeiten sehen wir uns in unseren Rechten verletzt und fühlen uns nicht wahrgenommen. Dieser Umgang macht uns fassungslos und wütend“, sagte die 40 Jahre alte Beamtin, die seit sieben Jahren in der Siedlung wohnt. Dort sei Hilfsbereitschaft ein hoher Wert und werde nicht erst seit der Aufnahme von Obdachlosen und Flüchtlingen in der Nachkriegsära gelebt. Auch jetzt hätten Verwaltung und Behörde mit offenen und ehrlichen Informationen für „Akzeptanz und Verständnis“ werben können. Angesichts der konkreten Abläufe verkomme die gesetzlich vorgeschriebene Anhörung jedoch zur Farce. Von einem ergebnisoffenen Verfahren könne nicht mehr die Rede sein.

Wie das Abendblatt erfuhr, wusste das Bezirksamt spätestens am 23. Januar vom Votum der Sozialbehörde. An diesem Tag soll f & w mit Mitarbeitern des Bauamts über das Projekt Bostelbek und die Fällgenehmigung gesprochen haben. Am Dienstagabend bestätigte Baudezernent Jörg Penner den Eingang des Fällantrags „Ende Januar“. Obwohl Bezirksamtsleiter Thomas Völsch in einer Antwort auf eine Kleine FDP-Anfrage den 5. Februar als Eingangstag benannte. „Von der Besprechung im Bauamt hatte ich lange keine Kenntnis“, erklärte Völsch.

Was aber noch viel schwerer zu vermitteln ist als die sich widersprechenden Zeitangaben von führenden Vertretern der Bezirksverwaltung: Warum konnte überhaupt eine Fällgenehmigung gestellt und erteilt werden, wenn eine Entscheidung über die weitere Nutzung der Pferdewiese angeblich bis heute nicht gefallen ist? Zumal das Areal im gültigen Bebauungsplan als Vorbehaltsfläche für den Bau einer Polizei- oder Feuerwehrwache ausgewiesen ist. Hat es hier etwa schon eine Umwidmung gegeben?

Erklärungsbedürftig ist auch, dass nach Abendblatt-Informationen in den vergangenen Jahren mindestens drei Bostelbek-Siedlern Genehmigungen für Erweiterungs- und Zusatzbauten versagt wurden. Der Grund: Eine zu hohe Belastung durch Lärm- und Feinstaub-Emissionen. Nun soll aber plötzlich die Ansiedlung von mehr als 200 Flüchtlingen möglich sein. Ineke Siemer: „Und das, obwohl auf die Siedlung in naher Zukunft weitere Belastungen zukommen. Durch den achtspurigen Ausbau der A7, die Verlegung der Autobahnauffahrt Moorburg, den ständig zunehmenden Güterverkehr auf Bahn und Straße, sowie den Ausbau von Hafenquerspange und Hafenbahn.“ Schon jetzt betrage der Wertverlust aller etwa 215 Siedlungsimmobilien geschätzte neun Millionen Euro, wie ein anderer Anwohner vorrechnete.

Doch nicht nur deshalb sei der Bau des Flüchtlingslagers in Bostelbek unverantwortlich. Die jüngste Sozialraumstudie aus dem Jahr 2011 belege eine völlig unzureichende Infrastruktur. Angefangen von einer mangelnden ärztlichen Versorgung durch den Aufnahmestopp in vielen Praxen, über fehlende Schul- und Kitaplätze, bis zu einer dürftigen Anbindung an der öffentlichen Nahverkehr. Wie schlecht die Vertreter des Bezirksamtes auf solche erwartbaren Argumente vorbereitet waren, demonstrierte Sozialdezernent Holger Stuhlmann. Der zählte zwar zehn Kitas im Umfeld von zwei Kilometern auf. Er wusste aber nicht zu sagen, wie viele Plätze aktuell tatsächlich zur Verfügung stehen.

„Uns wegen des Widerstands gegen das geplante Flüchtlingslager in die fremdenfeindliche Ecke zu drängen, ist völlig daneben. Integration kann so jedenfalls nicht funktionieren“, sagt Ineke Siemer. Zumal von den 750 Siedlern laut Sozialmonitoring 2013 etwa 30 Prozent über 64 Jahre alt sind und 15 Prozent unter 18: „Folglich verbleiben 412 Anwohner für 216 Flüchtlinge. Ein Maßstab, in dem Integration nahezu unmöglich ist.“

Ineke Siemer sieht wesentliche Fragen der Siedler nach wie vor nicht beantwortet. Am entlarvendsten dürfte für viele Zuhörer indes die Anmerkung von Heie Kettner gewesen sein. Der BASFI-Mitarbeiter sprach angesichts von aktuell 411 fehlenden Plätzen für Flüchtlinge von einer absoluten Notsituation. Im Laufe des Jahres werde sich diese Zahl voraussichtlich verdreifachen, auf mehr als 1300. „Deshalb müssen wir jede Fläche nehmen, es geht einfach nicht mehr anders“, so Kettner.