Stadtplaner Reiner Nagel über falsche Einschätzungen von Experten und die Nicht-Integrierbarkeit von Mastställen in die städtische Entwicklung

Buchholz. Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur, ist am Montag nach Buchholz gekommen, um über die Rolle der Baukultur im ländlichen Raum zu sprechen. Im Interview mit dem Hamburger Abendblatt erklärt er, welchen Wandel er in den vergangenen 20 Jahren beobachtet hat, was er von Shoppingzentren hält und warum ein Schweinemaststall für Kommunen eine Grundsatzfrage sein sollte.

Hamburger Abendblatt:

Wodurch unterscheidet sich Baukultur im ländlichen Raum von der städtischen?

Reiner Nagel:

Zunächst einmal: Zum sogenannten ländlichen Raum gehören nicht nur kleine Dörfer, sondern auch größere Gemeinden und Kleinstädte. Im Grunde nimmt der ländliche Raum 90 Prozent der Fläche in Deutschland ein. Was die Baukultur angeht, sind es im Prinzip die gleichen Themen wie in der Stadt, nur in anderen, kleineren Maßstäben. Bei vitalen Gemeinden im ländlichen Raum gibt es zum Beispiel oft einen bestimmten gemeinsamen Willen, etwas zu Gestalten. Es gibt viele Dörfer, die bei Wettbewerben ausgezeichnet worden sind. Andererseits gibt es auch viele Orte, die mit einem negativen Erscheinungsbild auffallen. Der Charakter eines Ortes geht häufig von der Gemeinschaft aus, die dort lebt.

Wie definieren Sie überhaupt Baukultur?

Reiner Nagel:

Baukultur ist das Zusammenführen von unterschiedlichen Fachdisziplinen wie Stadt- und Landschaftsplanung, Architektur, Ingenieurwesen, Bau- und Immobilienwesen sowie Handwerk. Legt man sich dort auf eine bestimmte Qualität fest, wirkt sich das auf die gebauten Lebensräume aus.

Sind denn die Kommunen heute sensibler bei diesem Thema als vor 20 Jahren? Achten sie mehr auf den Erhalt von historischen Bauten?

Reiner Nagel:

Das kann man so nicht sagen. Auf der einen Seite gibt es einen negativen Wandel durch die technischen Möglichkeiten. Bei den Baustoffen gibt es beispielsweise eine Generalisierung, die landauf, landab zu austauschbaren Gebäuden führt. Dadurch geht die regionale Identität eines Ortes verloren. Auch leiden viele ländliche Räume an sinkenden Bevölkerungszahlen. Geschäfte und Kneipen schließen, es gibt infrastrukturelle Probleme. Auf der anderen Seite wächst aber bei vielen das Bewusstsein, bei Neubauten auf Qualität zu setzen und schützenswerte Gebäude zu erhalten.

Wenn Baukultur an sich schon so komplex ist, ist es da überhaupt möglich, dass sich ganz normale Bürger, wie in Buchholz beim Integrierten Stadtentwicklungskonzept (ISEK), in die Gestaltung des öffentlichen Raums einbringen?

Reiner Nagel:

Sicher, ein ISEK ist der richtige Weg! Bürger sind in der Regel keine Experten für technische und gestalterische Baufragen. Sie können aber ihren Sachverstand und ihre Lebenserfahrung in die Planung mit einbringen. Fachliche Beratung braucht man zusätzlich. Die Bürgerschaft ist sozusagen Auftraggeber und Resonanzkörper für den Prozess.

Aber haben die Experten denn immer den richtigen Blick für die großen Zusammenhänge?

Reiner Nagel:

Was Buchholz betrifft, habe ich den Eindruck, dass es hier funktioniert, dass man ressortübergreifend denkt und arbeitet. Viele Verwaltungen haben aber in den vergangenen Jahren so stark gespart, dass immer mehr Kompetenz verloren gegangen ist. Kleinere Gemeinden haben da sicherlich mehr Probleme als Städte.

Können Sie ein Beispiel für eine falsche Experten-Einschätzung nennen?

Reiner Nagel:

Dem Automobil wird bei der Planung, aber auch in der Gesellschaft immer noch eine sehr große Bedeutung beigemessen. Das wirkt sich aus als Flächenkonkurrenz im öffentlichen Raum. Obwohl das Bauvolumen in Deutschland etwa viermal so groß ist wie der Automobilmarkt, haben wir eher eine Autokultur als eine Baukultur.

Gibt es Ihrer Meinung nach bestimmte Dinge wie zum Beispiel ein großes Shoppingcenter, von denen Sie Kleinstädten wie Buchholz generell abraten würden?

Reiner Nagel:

Shoppingcenter sind allein wegen der Größe ihrer Handelsfläche riskant für kleine Städte. Die Stadt Lüneburg zum Beispiel wehrt sich seit Jahren meiner Ansicht nach vollkommen zu Recht und erfolgreich gegen ein Shoppingcenter und erhält sich damit die hohe Attraktivität ihrer gewachsenen Innenstadt. Was die Buchholz-Galerie angeht, liegt sie zumindest zentral in der City und hat keine Randlage. Das würde eine Innenstadt deutlich mehr gefährden.

Auf Ihrer Internetseite heißt es, dass Baukultur mehr als Baukunst ist und sie auch ökologische und wirtschaftliche Qualitäten berücksichtigt. Wie kann eine Kommune dann überhaupt Vorhaben wie Mastställe oder große Gewerbegebiete planen? In Buchholz wird nämlich gerade über einen Schweinemaststall im Landschaftsschutzgebiet diskutiert, der jetzt aber nicht mehr genehmigt werden soll.

Reiner Nagel:

Bei einem ganzheitlichen Ansatz sollte man nicht nur nach der Genehmigungsfähigkeit fragen, sondern auch, ob ein solcher Maststall überhaupt die richtige Wahl für eine Kommune ist. Industrielle Landwirtschaft ist nie integrierbar in eine städtische Entwicklung. Erst wenn auf den Ebenen der Stadtentwicklung verträglichere Lösungen erarbeitet werden, stellen sich die Fragen der Landschafts- und Ortsplanung und des Erscheinungsbildes.

Aber kann man dann überhaupt noch etwas zügig umsetzen, wenn man immer den großen Zusammenhang sehen sollte?

Reiner Nagel:

Ja klar, das geht sogar mit guten Verfahren im Ergebnis schneller. Im Rückblick ist es häufig so, dass Dinge, die man schnell umsetzen will, am Ende sogar langsamer vorangehen, weil etwas übersehen wurde oder nicht realisiert werden kann. Ein Architektenwettbewerb oder eine breite Bürgerbeteiligung bedeuten nur scheinbar eine längere Planungszeit. Schon beim Genehmigungsverfahren und über den Lebenszyklus eines Gebäudes gesehen zahlen sich eine nachhaltigere Planung, langlebigere Materialien und eine gute Einbindung der Bürger aber immer aus.