Gewalt gegen Frauen im Landkreis Harburg: 311 Fälle wurden im Jahr 2012 bekannt. Dunkelziffer ist nach wie vor hoch

Buchholz . Nun wehen sie wieder landauf, landab vor den Rathäusern, die himmelblauen Flaggen. „Frei leben“ ist über einer abstrakten weiblichen Figur zu lesen und darunter in dicken roten Lettern: „Ohne Gewalt.“ Gewalt ist bei Frauen weltweit die häufigste Todesursache – noch vor Krankheiten wie Krebs und Verkehrsunfällen.

Der heutige 25. November ist der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen. Das registrieren vermutlich nur wenige. Wer aufmerksam wird, assoziiert mit diesem Thema zumeist Delikte am anderen Ende der Welt: Zwangsabtreibungen und Vergewaltigungen in Fernost, Genitalverstümmelung in Afrika, Frauenhandel in Lateinamerika, Zwangsprostitution in Osteuropa. Man denkt an unterdrückte Burka-Trägerinnen, an Mädchen, die unter Taliban-Herrschaft nicht zur Schule gehen dürfen und blutjunge Bräute bei Zwangshochzeiten.

Wer im Zusammenhang mit Gewalt unser Land im Blick hat, erinnert sich zuerst an Schlagzeilen von Überfällen in leeren Parkhäusern oder auf einsamer Straße. Dabei ist der häufigste Tatort ausgerechnet das traute Heim. „Der gefährlichste Mensch für eine Frau ist nicht der Fremde, der im Dunkeln lauert. Es ist der Partner oder Ex-Partner. Und das eigene Zuhause ist für die Frau der gefährlichste Ort, auch hier in Deutschland“, sagt Dörthe Heien. „Statistisch wird in der Bundesrepublik jede vierte Frau mindestens einmal im Leben Opfer von Gewalt durch einen Beziehungspartner.“

Die Diplompädagogin hat sich beruflich dem Kampf für Frauenrechte verschrieben. Sie arbeitet jeweils mit halber Stelle als Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Buchholz und für „BISS", die vom diakonischen Werk der evangelisch-lutherischen Kirchenkreise Hittfeld und Winsen getragene Beratungs- und Interventionsstelle bei häuslicher Gewalt. Frauen, die im Landkreis Harburg in den eigenen vier Wänden geschlagen, vergewaltigt, gedemütigt, eingesperrt, kontrolliert, verfolgt oder belästigt werden, finden bei Dörthe Heien Unterstützung.

Im Jahr 2012 wurden ihr 311 Fälle gemeldet. Der weit überwiegende Teil der Hinweise kam von der Polizei, die zuvor von den betroffenen Frauen selbst, von besorgten Angehörigen oder Nachbarn alarmiert worden war. Zu mehr als der Hälfte der Opfer hat die Pädagogin persönlichen Kontakt herstellen können, den anderen hat sie postalisch Informationsmaterial zugesandt.

Dennoch hat sie häufig das Gefühl, zu wenig ausrichten zu können. „Leider sieht die neue Förderrichtlinie des Landes Niedersachsen vor, dass die BISS nur die Erstberatung übernimmt, daher ist der Anteil von Telefonaten höher als der der Gespräche von Angesicht zu Angesicht“, bedauert Dörthe Heien. Sie informiert die Frauen über Möglichkeiten der Hilfe durch das Gewaltschutzgesetz, stellt Kontakt zu Lebensberatungsstellen, Migrationsberatung, Kinderschutzbund, Rechtsanwälten oder Frauenhäusern her.

Im Landkreis Harburg gibt es ein einziges Frauenhaus. Die Adresse der von der AWO getragenen Einrichtung wird geheim gehalten. Es bietet Platz für bis zu acht Frauen und deren Nachwuchs und ist nahezu voll ausgelastet. 2012 haben hier 52 Frauen und 59 Kinder vorübergehend Schutz vor Ehemännern, Ex-Partnern, Vätern oder Brüdern gesucht.

Manche blieben nur einen Tag. Andere haben mehrere Monate gebraucht, um sich neu zu orientieren und mit Hilfe der Mitarbeiterinnen andere Perspektiven zu entwickeln.

Es gibt drei volle Stellen, die sich zwei Diplom-Sozialpädagoginnen und zwei Erzieherinnen teilen. Nachts und am Wochenende ist keine von ihnen vor Ort. „Außerhalb unserer Arbeitszeit gibt es nur an den Wochenenden Bereitschaftsdienste, die Neuaufnahmen regeln können. In der Woche sind die betroffenen Frauen nach den Bürozeiten auf sich allein gestellt“, erklärt Cornelia Benndorf, die das Haus zurzeit leitet. „Unsere Aufgaben umfassen nicht nur die Betreuung der aktuellen Bewohnerinnen, sondern auch die Beantwortung telefonischer Anfragen von Betroffenen, von Angehörigen und Kooperationspartnern. Und wir pflegen Kontakt zu ehemaligen Bewohnerinnen, befassen uns beispielsweise mit deren behördlichen Angelegenheiten“, berichtet die Erzieherin und Familien-Sozialtherapeutin.

Wie grausam die einzelnen Frauen-Schicksale auch sein mögen – Dörthe Heien und Cornelia Benndorf haben gelernt, professionell damit umzugehen. „Das wirklich Schockierende an unserer Arbeit ist, wie wenig Mittel für bedrohte und misshandelte Frauen und ihre Kinder zur Verfügung gestellt werden“, sagt Cornelia Benndorf. Es ist eben einfacher, bunte Fahnen zu hissen, als finanziell Flagge zu zeigen.