Kinder mit und ohne Behinderung werden jetzt gemeinsam unterrichtet. Diese Inklusion hat Unsicherheit bei den speziellen Bildungsstätten ausgelöst

Buchholz/Winsen. An der Buchholzer Birkenschule ist es in den vergangenen Jahren leer geworden. Wo sich vor zehn Jahren noch 300 Förderschüler auf dem Schulhof tummelten, sind heute nur noch 130 übrig geblieben. „Wie es in Zukunft weitergeht, können wir derzeit nicht abschätzen“, sagt Schulleiterin Susan Gandor-Götz und geht über die hellen Flure des Gebäudes, das erst vor etwas mehr als zehn Jahren für umgerechnet sechs Millionen Euro errichtet wurde. Dabei ist ihr eines klar: Die Schüler mit Förderbedarf gibt es natürlich immer noch. Sie sind nicht verschwunden, sie sind mittlerweile nur an anderen Schulen untergebracht. Die Inklusion, die in Niedersachsen jetzt umgesetzt wird und durch die Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet werden sollen, hat an der Birkenschule Spuren hinterlassen. Eine Schulform steckt mitten im Umbruch.

Sowohl dort als auch an der Wolfgang-Borchert-Schule (WBS) in Winsen, der zweiten Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen im Landkreis Harburg, gab es in diesem Jahr keine Neuzugänge in der ersten Klasse. Alle Eltern haben entschieden, dass ihre Kinder auf eine „normale“ Grundschule gehen sollen. „Vermutlich hätten wir ansonsten aber sowieso nur weniger als eine Handvoll neue Erstklässler gehabt“, sagt Susan Gandor-Götz. Ihre Zahlen decken sich in etwa mit denen ihrer Kollegin Regina Uhl von der Winsener WBS, bei der beispielsweise in der aktuellen Klasse zwei lediglich sieben Kinder sind. Ingesamt hat die WBS noch 158 Schüler.

Sieht man einmal von Einrichtungen mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung wie etwa die Schule An Boerns Soll in Buchholz ab, die ihren Grundschulbereich behalten dürfen, ist die Zukunft der Förderschule ungewiss. Zwar steht fest, dass die Schulen wie die Birkenschule und die WBS sukzessive ihre ersten bis vierten Klassen verlieren. Doch offen ist, was beispielsweise mit den Sprachheilklassen passiert, die ebenfalls über die Förderschulen laufen. „Die Koalitionsvereinbarungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen beabsichtigen in Niedersachsen eine behutsame Ausweitung der Inklusion“, sagt Susanne Schrammar, Pressesprecherin des niedersächsischen Kultusministeriums. Im Zuge dessen sollen auch die Schulen für Kinder mit Sprachschwierigkeiten im Dialog mit allen Beteiligten „schrittweise in die bestehenden allgemeinen Schulen überführt werden“. Eine gesetzliche Grundlage dafür gibt es allerdings noch nicht.

Ebenfalls unklar ist, ob der Besuch einer Förderschule ab Klasse fünf künftig möglich bleibt oder nicht. Zwar teilt das Kultusministerium hierzu mit, dass auch Schulen mit dem Schwerpunkt Lernen von Jahrgang fünf bis zehn geführt werden können. Jedoch nur bei entsprechendem Bedarf. Schulleiterin Gandor-Götz sagt dazu: „Was genau ab Klasse fünf passiert, wissen wir derzeit einfach nicht.“

Dennoch räumt sie ein, dass es gar nicht die Inklusion war, die ihrer Schule die größte Veränderung bescherte, sondern das sogenannte regionale Konzept, das zwei Jahre zuvor startete. Damals hatte die Birkenschule mit 18 umliegenden Grundschulen eine Vereinbarung zur „sonderpädagogischen Grundversorgung“ geschlossen. In Winsen begann das Konzept mit sieben Grundschulen. Angefangen mit dem ersten Jahrgang bekam jede Schule zwei Förderstunden pro Klasse und Woche als Pauschale zugeteilt. Das heißt, die Förderlehrer gehen wie jetzt bei der Inklusion an die Grundschulen, und die Schüler bleiben in ihrem vertrauten Umfeld. „Mittlerweile sind wir im dritten Jahr, und ich bin froh, dass wir das Konzept umgesetzt haben“, sagt die Buchholzer Schulleiterin. Es bot den Schulen eine gute Möglichkeit, sich schon mal mit der Inklusion vertraut zu machen. Schulen, die erst in diesem Jahr mit der Inklusion gestartet sind, haben nur für den Jahrgang eins pauschale Förderstunden erhalten.

Doch diese Pauschale ist nicht alles, bei Bedarf gibt es zusätzliche Unterstützung. Grundschulen und weiterführende Schulen erhalten seit Beginn dieses Schuljahres aufsteigend drei bis fünf Lehrerstunden pro Schüler, allerdings nur in den Förderschwerpunkten Körperlich-Motorische Entwicklung, Hören, Sehen und Geistige Entwicklung. Darüber hinaus gibt es an den weiterführenden Schulen, in denen keine sonderpädagogische Grundversorgung vorgesehen ist, personenbezogene Förderstunden auch für die Schwerpunkte Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache – also in den Bereichen, in denen die Grundversorgung gegriffen hat.

Für den Alltag der Förderschullehrer bedeutet das alles eine Umstellung. Jeder von ihnen ist zwei Schulen zugeordnet. „Wir haben mittlerweile doppelt so viele Lehrerstunden außer Haus wie im Haus“, sagt Susan Gandor-Götz. Auch wenn das organisatorisch eine Herausforderung ist und das Lernen in der Förderschule in dieser Hinsicht vielleicht effektiver war: Die Schulleiterin ist überzeugt, dass Kinder viel mehr voneinander lernen als man denkt und die Inklusion deshalb der richtige Weg ist. Andererseits weiß sie, dass vor allem die Grundschulen unter einem enormen Druck stehen. „Sie haben sowieso schon eine riesige Bandbreite an Schülern und sind eigentlich die wahren Gesamtschulen.“ Die Inklusionsschüler erhöhen die Herausforderung für die Grundschulen noch einmal.

Für die Pädagogin stellt sich auch bei der Inklusion grundsätzlich die Frage der Leistungsbewertung. Am Ende müsse die Schule definieren, welchen Abschluss ein Kind bekommen soll, was ein Kind tatsächlich kann. „Wir müssen einen Diskurs darüber führen, ob sich ein Kind in der Schule in erster Linie wohlfühlen oder etwas leisten soll“, findet sie. Die Rückmeldungen von den Berufsbildenden Schulen, auf die die Schüler nach Ende ihrer Schulzeit wechseln, werden aus ihrer Sicht ein wichtiger Gradmesser für die Qualität des Unterrichts sein.

Auch WBS-Leitern Regina Uhl sieht nicht alles durch die rosarote Brille. „Es gibt immer wieder Kinder, die durch alle Raster fallen“, sagt sie. Waren diese Kinder bisher in den Förderschulen in einer Art sicherer Hafen angekommen, in dem sie erstmalig nicht scheiterten, müssen sie sich jetzt der „normalen“ Schulwelt stellen, die härter ist. Aus ihrer Sicht ist es deshalb bedauernswert, dass den Eltern von Grundschulkindern mit der Inklusion die Wahlmöglichkeit genommen wird, ihr Kind eben doch auf eine Förderschule zu schicken.

Als Beispiel nennt Regina Uhl die aktuelle fünfte Klasse ihrer Schule. Die Eltern aller zwölf Kinder hätten im vergangenen Schuljahr gesagt: „Unsere Kinder fühlen sich hier gut aufgehoben, wir wollen den Weg raus noch nicht wagen.“ So entschieden sie, an der WBS zu bleiben, obwohl ihre Kinder auch an allgemeine Schulen hätten wechseln können.