Vor 20 Jahren wurde Amt Neuhaus nach Niedersachsen zurückgegliedert. Der Ort gedenkt – und begeht das Jubiläum mit einem Brückenfest

Neuhaus. Erichs letzte Lampe steht an Kilometer 524. Dort, in Bitter an der Elbe, hat sie jemand stehen gelassen, die Straßenlaterne des alten DDR-Grenzstreifens. Heute gehört Bitter wieder zu Niedersachsen, zum Landkreis Lüneburg. Als einzige Region Deutschlands überhaupt ist Amt Neuhaus vor exakt 20 Jahren zurückgegliedert worden: Die Gemeinde gehört wieder zu dem Bundesland, zu dem sie vor der deutsch-deutschen Teilung gezählt hatte.

„Honeckers Lampe leuchtete Tag und Nacht“, erzählt Fred-Erhard Haul und lacht ein bisschen: „Schön hell war das.“ Geboren 1957, ist der KfZ-Meister so nah an der Grenze aufgewachsen wie die wenigsten. Der Hof der Familie steht seit 200 Jahren direkt hinterm Elbdeich, an Kilometer 524.

Es ist der 26. Mai 1952, als das „Gesetz über die Einführung einer besonderen Ordnung an der Demarkationslinie“ in Kraft tritt. Die DDR-Behörden richten eine Sperrzone ein. Bis in die Achtziger Jahre werden die Grenzsicherungsanlagen ausgebaut, mit Zäunen, Gräben, Toren, Wachtürmen, Beobachtungsbunkern, Minengürteln, Hundepatrouillen, Lichttrassen und Selbstschussanlagen. Fünf Kilometer breit ist die von den Behörden festgelegte Sperrzone, 500 Meter der Schutzstreifen.

Noch 1952 beginnen die Behörden mit der „Aktion Ungeziefer“, 1961 folgt die „Aktion Kornblume“. In 13 Orten entlang der Grenze müssen die Bewohner ihre Häuser verlassen, weil sie im Schutzstreifen liegen. Einige fliehen in den Westen, andere bekommen neue Wohnorte zugewiesen. Ihre Gehöfte werden abgerissen.

Wie das Dorf Bitterwerder in Sichtweise von Hauls Deichabschnitt: Drei Häuser und eine Kastanie bildeten den Weiler, den es nicht mehr gibt. Eine Skulptur des Strachauer Bildhauers Klaus Großkopf ragt aus den Elbwiesen in die Wolken, so rot wie die Ziegel der von der DDR-Regierung abgerissenen Mauern.

Die von der Familie Haul stehen bis auf eine alte Räucherkate noch. Warum, weiß keiner. Es fragt auch niemand. „Darüber wird im Dorf nicht gesprochen“, sagt Fred-Erhard Haul. Seine Frau Elke, vor acht Jahren hergezogen, hat in den Archiven geforscht. Auch sie hat es nicht herausgefunden. Nur die Oma sagt, es sei um eine Stimme gegangen bei der Abstimmung. Wer für die Hauls und wer gegen sie gestimmt hat in dem Gremium, das wissen sie nicht. Und wollen es vielleicht auch gar nicht wissen.

„Unsere Zukunft ist alles, nur nicht geklärt“, schrieb Familie Poppe, nachdem sie ihr Haus in Vockfey vier Dörfer weiter räumen musste. Auch da hat der Befehl Nummer 38/52 die Pläne Hunderter Menschen zerstört: als sie 48 Stunden Zeit bekamen, auszuziehen. Eine Pyramide aus Überbleibseln der abgerissenen Höfe gedenkt in Vockfey der vertriebenen Familien.

Wo in Darchau noch heute ein alter Grenzturm in den Himmel ragt, stand bis 1952 eine Fischerhütte. Weitere ausgediente Wachposten stehen in Neu Bleckede und in Konau, das mit dem angrenzenden Popelau das weltweit einzige vollständig erhaltene Marschhufendorf bildet und komplett unter Denkmalschutz steht. Sieben Höfe im Deichvorland hat das DDR-Regime abgerissen, ihre Warften sind leer. Ansonsten blieb das Dorf mit seinen mächtigen, 500 Jahre alten Niedersachsenhäusern nahezu unverändert.

In Bitter bei Familie Haul hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Perspektive verändert. Bis dato ging die Richtung quasi täglich nach Hitzacker, auf die anderen Seite der Elbe – der Name Haul kommt vom Plattdeutschen „Hol över“, hol rüber: So etwas wie ein Fährmann war der erste Haul. Selbst ihre Toten beerdigten die Hauls gegenüber in Hitzacker. Doch als Fred-Erhards Großeltern Ende der 1940er-Jahre starben, durften sie schon nicht mehr ins Familiengrab. Sie ließen sich in Eichensärgen bestatten, in der Hoffnung, eines Tages umgebettet zu werden. Eine Hoffnung, die nie erfüllt wurde.

Wenn Elke Haul, 52 und Lehrerin, auf die Frage antworten soll, was heute anders ist als damals, dann spricht sie darüber, was sie beschäftigt in diesen ewigen Fragen von Ost und West, BRD und DDR.

„Was man nicht kennt, vermisst man nicht“, sagt die Frau, die ihren blonden Zopf unter einer selbst gesponnenen Wollmütze verbirgt. Sie selbst hat von Westfernsehen auf DDR-Kanal umgeschaltet, wenn es an der Tür klingelte.

Darüber, dass Fred als Teenager niemals spontan eine potenzielle Freundin mit nach Hause bringen durfte, kann er heute lachen. Vier Wochen vorher mussten die Familien im Sperrgebiet Besuch anmelden. Sie selbst hatten um 22 Uhr zu Hause zu sein. Wer keinen Pass in der Tasche hatte, wurde verhaftet. Jeden Morgen holte ein Bus die Leute aus den Elbdörfern ab und brachte sie zur Arbeit ins Fliesenwerk Boizenburg. Einen Alltag gab es auch im Sperrgebiet. Einen Alltag, den Fred-Erhard Haul mehr als 30 Jahre lang nicht anders kannte. Und der mit der Wende plötzlich perdu war.

„Alles war anderes, alles war weg“, sagt Elke Haul. „Für unsere Rechte einzustehen, sie einzufordern, das mussten wir erst lernen.“

Doch das Grundlegende im Leben, sagt Elke Haul, und ihr Mann sieht ihr ins Gesicht, das hat sich nie geändert - ob DDR oder BRD, ob Mecklenburg oder Niedersachsen: „Dass die wichtigsten Dinge im Leben die Gesundheit und die Familie sind.“