Archivar des Heimatmuseums Wilhelmsburg entdeckt auf dem Dachboden 200 Kinderbilder aus dem Ersten Weltkrieg

Deutsche Luftschiffe beherrschen den Himmel. In einer romantisch anmutenden Szene unter dem Blätterdach eines Laubbaumes versorgt eine Krankenschwester die Wunde am Bein eines Soldaten in Feldgrau. Ein U-Boot der kaiserlichen Marine versenkt einen riesigen schwarzen Dampfer. Diese kriegsverherrlichenden Szenen haben Schüler während des Ersten Weltkriegs (1914 bis 1918) gemalt. 200 dieser höchst seltenen Kinderzeichnungen hat der Archivar des Museums Elbinsel Wilhelmsburg auf dem Dachboden entdeckt. Das Museum plant eine Ausstellung möglichst im nächsten Jahr - genau 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges.

Eigentlich hat Archivar Peter Beenk auf dem Dachboden des Museums nach älteren Schriftstücken gesucht - Rentenkarten, Geburtsurkunden und ähnliches. Beim Aufräumen entdeckte er den Bilderschatz, verpackt in einer braunen Pappmappe. „Die Zeichnungen sind mir beim Aufräumen in die Hände gefallen“, freut er sich.

Immer wieder mal geben Menschen bei dem kleinen ehrenamtlich betriebenen Heimatmuseum in Wilhelmsburg alte Dinge ab, die für die Geschichte der Elbinsel von Bedeutung sein könnten. Lange Zeit notierte niemand die Spender, sie gerieten in Vergessenheit. Wer die beinahe 100 Jahre alten Kriegszeichnungen dem Museum wann gegeben hat, ist deshalb nicht bekannt. Sicher ist nur: Sie stammen von der „Schule III“ in Wilhelmsburg, so steht es auf dem Pappordner. Das sei die heutige Grundschule in der Fährstraße, die im Jahr 1900 gebaut wurde, weiß Peter Beenk. Er vermutet, dass zehn bis dreizehn Jahre alte Jungen und Mädchen die Bilder gemalt haben.

Die knapp 200 Kinderzeichnungen, mit Bunt- und Wachsmalstiften gemalt, zeigen Szenen von Lazaretten, aus dem Luft-, See- und Landkrieg. Auf einem Bild hält ein Kind klar erkennbar den Untergang des britischen Passagierdampfers „Lusitania“ fest, der am 7. Mai 1915 von einem deutschen U-Boot versenkt wurde. Wie kein anderes Ereignis im Ersten Weltkrieg brachte der Untergang des damals schnellsten Atlantik-Überquerers die damals neutralen USA gegen Deutschland auf: 124 Amerikaner kamen dabei ums Leben, insgesamt starben 1200 Passagiere.

Die Zeichnungen zeigen erstaunliche Details von der Front, obwohl die Kinder damals noch keine Fernsehbilder und gedruckte Kriegsfotos aus Zeitungen kennen konnten: Eine Krankenschwester mit schwarzen Augenrändern, offenbar ein Zeichen von Übermüdung oder Mangelernährung. Schwerverletzte Soldaten – auf Tragen liegend – warten vor Lazarett-Zügen auf den Abtransport, während in der Nähe Granaten einschlagen.

Woher kannten die Schüler im Ersten Weltkrieg ohne Fernsehen und Zeitungsfotos von der Front diese realistischen Szenen? Sogenannte Kriegsmaler hätten damals im Auftrag des Staates an der Front Bilder gezeichnet, sagt Jürgen Drygas, 1. Vorsitzender des Museumsvereins. „Diese Bilder könnten die Kinder gekannt haben.“ Die Gemälde der Kriegszeichner wurden damals in der Heimatpresse, in Ausstellungen und in Frontzeitungen gezeigt.

Das Internet bietet kaum Hinweise auf Ausstellungen mit Kinderzeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg. Die Nationalbibliothek in Wien hat einige im Archiv. „Wir haben gleich gewusst, dass die Bilder etwas Besonderes sind. Wir waren ganz aufgeregt, als unser Archivar dem Vorstand von dem Fund berichtete“, sagt Museumssprecher Claus-Peter Rathjen. Der 1. Vorsitzende Jürgen Drygas hat Peter Beeng beauftragt, die ein Jahrhundert alten Zeichnungen, teilweise auf dünnem, butterbrotähnlichen Papier, zu ihrem Schutz in säurefreien Umschlägen zu archivieren.

Das Museum Elbinsel Wilhelmsburg plant eine Ausstellung seiner Kinderkriegszeichnungen. Der beste Zeitpunkt sei das nächste Jahr, genau 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Für die Helfer des komplett ehrenamtlich betriebenen Museums bedeutet eine zusätzliche Sonderausstellung eine große Herausforderung. Ihre Ressourcen sind begrenzt.

Der Museumsverein möchte die Kinderkriegsbilder nicht einfach nur zeigen, sondern auch wissenschaftlich einordnen. Deshalb sucht er Experten. „Wir brauchen jemanden mit Fachwissen aus Geschichte, Kunst oder Psychologie“, sagt Jürgen Drygas. Idealerweise könnte ein Student zu den Kinderzeichnungen forschen und seine Bachelor-Arbeit und seine Semesterarbeit dazu schreiben.

Der Museumsvereinsvorsitzende hält es für wichtig, in der Ausstellung die 100 Jahre alten Kinderzeichnungen in Bezug zur Gegenwart zu setzen. Die Darstellungen der Kinder seien ja gruselig. Aber auch heute würden Kinder am Computer Totschießen spielen, sagt Jürgen Drygas. Und irgendwo säßen Männer am Rechner und würden Drohnen steuern, die Menschen töten. Dem Entdecker der Kinderkriegszeichnungen ist noch etwas anderes wichtig. Auch wenn die Zusammenarbeit mit externen Experten erwünscht ist: „Ich lege Wert darauf“, sagt Peter Beenk, „dass wir den Fund nicht weggeben.“