Immer weniger Autofahrer fühlen sich verpflichtet, eine Rettungsgasse freizuhalten. Die Beamten der Autobahnpolizei gehen inzwischen dazu über, den Standstreifen zu befahren, wenn es gar nicht mehr anders geht.

Winsen. Wie eine Rettungsgasse gebildet wird, sollten Autofahrer eigentlich wie das Einmaleins beherrschen. Schließlich wird es auch in der Fahrschule gelehrt. Doch in der Praxis funktioniert das nur selten. Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei beklagen vor allem auf den Autobahnen ein mühevolles und zögerliches Durchkommen zu den Unfallstellen.

Vor einigen Wochen hat Michael Düker, Kriminalhauptkommissar der Polizeiinspektion Harburg, das am eigenen Leib erfahren. Auf der Autobahn 1 ereignete sich ein schwerer Unfall. Ein Fahrer war in seinem Lkw eingeklemmt und musste befreit werden. Es zählte jede Sekunde. Michael Düker fuhr mit seinem Streifenwagen vorne weg und versuchte über die Autobahn 39 zur Unfallstelle zu gelangen und zugleich der Feuerwehr und den Rettungsfahrzeugen den Weg zu bahnen. Vergeblich. Kaum einer der Autofahrer, so berichtete Düker, bildete die vorgeschriebene Rettungsgasse. Und das, obwohl der Polizist über seinen Außenlautsprecher immer wieder darum bat, zur Seite zu fahren. Die Straße war von Lkw und Personenwagen zugestellt. "Die Leute gucken und gucken und bilden keine Gasse." Am Ende führte es dazu, dass Düker mit seinem Streifenwagen auch zum Stehen kam und sich gezwungen sah, das Martinshorn abzustellen. Er kam ja ohnehin nicht weiter.

Wie oft die Beamten mit solchen Situationen konfrontiert werden, kann er nicht sagen, da es keine Erhebungen darüber gibt. Aber gefühlt passiert so etwas regelmäßig. "Das ist normaler Alltag", sagt der Sprecher der Polizeiinspektion Harburg. "Es klappt selten, zur Unfallstelle durchzukommen."

Matthias Köhlbrandt, Sprecher der Feuerwehr Landkreis Harburg, macht die Sensationsgier der Menschen dafür verantwortlich. Getrieben von der Neugier wolle jeder möglichst weit nach vorne kommen. Das kann für den Verletzten im Auto fatale Folgen haben.

Zwar sei bislang seines Wissens keiner auf der Straße verstorben, weil Feuerwehr und Rettungsfahrzeuge zu spät eingetroffen seien, sagt Köhlbrandt. Was aber, wenn zum Beispiel das Fahrzeug brennt und die Feuerwehr nicht rechtzeitig zur Unfallstelle gelangt, weil die Straße verstopft ist? Was, wenn jemand einen Herzinfarkt erleidet und die Sanitäter es nicht rechtzeitig durch den Stau schaffen können, um ihn zu reanimieren?

Erst vor wenigen Wochen, als sich auf der Autobahn 7 zwischen Seevetal-Fleestedt und dem Horster Dreieck ein schwerer Unfall ereignete, war auch die Durchfahrt verstopft. Der Sattelzug eines 48-Jährigen war ungebremst auf einen Lastwagen geprallt, der am Stau-Ende stand. Die Einsatzkräfte versuchten verzweifelt, zur Unfallstelle zu gelangen. "Das Vorankommen war nur schwer möglich", sagte Köhlbrandt.

Um drei Minuten verzögerte sich die Fahrt. Das war nicht der Grund für den Tod des Autofahrers, er war beim Aufprall auf den Lkw ums Leben gekommen. Doch drei Minuten können bei einem brennenden Auto schon entscheidend sein. Deshalb ist das Bilden einer Rettungsgasse so bedeutsam. "Aber die Leute können es nicht, sie wollen es nicht, sie machen es nicht", sagt Köhlbrandt. Selbst wenn sich beispielsweise die Feuerwehr einen Weg durch die Autoschlange gebahnt hat, halten die Autofahrer die gebildete Gasse für eventuell nachfolgende Rettungsfahrzeuge nicht aufrecht.

Das findet Ulrich Beecken vom Deutschen Roten Kreuz besonders "mühselig". "Immer wieder ordnen sich die Fahrzeuge ein, sobald der erste Einsatzwagen vorbeigefahren ist", sagt der Abteilungsleiter im Rettungsdienst des DRK Harburg Land. Jedes Rettungsfahrzeug muss sich deshalb aufs Neue durch den Verkehr zwängen.

Die Beamten der Autobahnpolizei gehen inzwischen dazu über, den Standstreifen zu befahren, wenn es gar nicht mehr anders geht. "Eine Rettungsgasse ist völlige Utopie", sagt Wilhelm Buhr, der den Einsatz- und Streifendienst beim Autobahnpolizeikommissariat Winsen leitet. "Die Neugierigen tragen dazu bei, dass alles länger dauert und dass das Löschen von Fahrzeugen und die Verletztenhilfe behindert werden."

Aber auch auf dem Standstreifen kommen die Beamten nur langsam voran. Das Martinshorn auf diesem Fahrstreifen aufheulen zu lassen, ist Tabu, da es die Autofahrer nur verwirren würde. Mal ganz abgesehen davon, dass der Standstreifen nicht für Einsatzfahrzeuge geeignet ist, weil er nicht überall ausgebaut ist und zudem Autos mit Pannen den Weg versperren könnten.

Angesichts der fehlenden Bereitschaft der Menschen am Steuer, eine Rettungsgasse zu bilden, hat Kriminalhauptkommissar Michael Düker oft Mühe, sich zu beherrschen. Besonders als er an den eingeklemmten Verletzten beim Unfall auf der Autobahn 1 dachte. "Ich war so wütend." Die Feuerwehr aus dem Landkreis Harburg konnte den Verletzten nicht befreien. Am Ende war es die Feuerwehr aus Hamburg, die sich aus der Gegenrichtung auf den Weg gemacht hatte und den Verletzten retten konnte.