Neu Wulmstorf lädt Inklusions-Experten Peter Wachtel in den Schulausschuss ein

Neu Wulmstorf. Das Thema "Inklusion" ist in Neu Wulmstorf schon lange angekommen. Kritiker sagen, die Idee werde an der Umsetzung scheitern, weil der Bedarf an zusätzlichen Pädagogen nicht gedeckt werden kann. Die Lehrer fühlen sich ungenügend auf die kommende Aufgabe vorbereitet. Schulleiter sorgen sich, dass sie künftig nicht mehr allen Kindern an ihrer Schule gerecht werden können. Und Eltern befürchten, dass das Leistungsniveau in inklusiven Klassen sinkt. Um offene Fragen zu diesem Thema zu klären und Bedenken abzubauen, lud die Gemeindeverwaltung Peter Wachtel für einen Vortrag nach Neu Wulmstorf. Der Pädagoge arbeitet seit 15 Jahren als Ansprechpartner für sonderpädagogische Förderung im niedersächsischen Kultusministerium. Sein Appell: "Lernen Sie umzudenken."

Knapp 500.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland sind behindert, nur 22 Prozent von ihnen besuchen eine reguläre Schule. Doch das könnte sich bald ändern. Niedersachsen führt zum nächsten Schuljahr für die Klassen 1 bis 5 verbindlich die inklusive Schule ein. Wie viele Eltern aber tatsächlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen und Kinder mit Förderbedarf auf die allgemeinen Schulen schicken, ist nicht absehbar. "Vermutlich wird nicht einmal in jeder zweiten Klasse eine inklusive Beschulung tatsächlich stattfinden", sagt Peter Wachtel. Denn in Niedersachsen haben 35.500 von 927.000 Kinder einen festgestellten Förderbedarf. "Die Inklusion ist also keine Massenbewegung."

Damit sprach der Experte einen der vielen Punkte an, die Kritiker des Vorhabens gern ins Feld führen. Weitere Argumente: Lehrer, Eltern und Wissenschaftler forderten eine durchgängige Doppelbesetzung für die sogenannten I-Klassen, doch weder Land noch Bund wollen dafür bezahlen. Vertreter der Gymnasien sehen den eigenen Bildungsauftrag in Gefahr. Und die Pädagogen fühlen sich häufig schlecht auf die neue Herausforderung vorbereitet.

Die zahlreichen Bedenken werden oft mit theoretischen Szenarien untermauert. Auch Abgeordneter Jürgen Waszkewitz, der mit einer Gymnasial-Lehrerin verheiratet ist, brachte eines mit: Ein mongoloider Junge nimmt auf einer Regelschule am Unterricht teil, lächelt selig vor sich hin, versteht aber gar nicht, worum es in der Schule eigentlich geht. "Da denke ich dann: armer Junge", sagte der Sozialdemokrat. "Und dann sitzen da 21 Kinder in einer Klasse und ein Kind ist da, das schreit und ständig den Unterricht stört und alle Aufmerksamkeit des Lehrers bindet. Da denke ich dann: arme Schüler."

Peter Wachtel hält diese Herangehensweise an das Thema für falsch. Für ihn ist die Gesellschaft reif für ein gelebtes Gleichheitsprinzip, wenn endlich ein Umdenken stattfände. "Sie dürfen sich nicht an Einzelfälle verlieren, sondern müssen versuchen, die Barriere in ihren Köpfen zu überwinden", sagt er. Dass Inklusion durchaus funktionieren könne, dafür gebe es bereits viele positive Beispiele. "Sie müssen vor Ort überlegen, welche Voraussetzungen es braucht, damit alle Kinder künftig auf ihre Kosten kommen. Sie von Anfang an zu sortieren, das kann nicht der richtige Weg sein." Immerhin sei die Inklusion nichts anderes als die konsequente Umsetzung des Menschenrechts: Jeder erhalte damit die Möglichkeit, sich vollständig und gleichberechtigt an allen gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen - und zwar von Anfang an und unabhängig von individuellen Fähigkeiten, ethnischer wie sozialer Herkunft, Geschlecht oder Alter.

Probleme im Schulalltag machten in der Regel übrigens nicht die körperlich oder geistig behinderten Kinder, sondern diejenigen mit sozialen Defiziten, meint Wachtel. Das unterstrich auch Ursula Stahmer, Leiterin der Hauptschule am Vossbarg. "Wir leisten schon seit vielen Jahren inklusiven Unterricht, arbeiten mit Kindern mit Lernbehinderungen und sozial-emotionalen Defiziten. Aber bislang haben wir immer für alle eine gute Lösung gefunden." Ob die Umsetzung der Inklusion funktionieren kann, hänge von vielen Faktoren ab. Dass sie aber letztlich zum großen Gewinn für die Gesellschaft wird, davon ist Peter Wachtel überzeugt.