Ein Choral auf Kirchenglocken, das bietet nur St. Michaelis in der Lüneburger Altstadt

Lüneburg. Für Günther Zamel und Tilman von Cramer ist gerade Hochsaison. Hochsaison für ihr Hobby. So häufig wie sonst nur im Dezember dürfen die beiden Musikschüler derzeit auf ihrem neuen Instrument spielen. Denn sie lernen nicht Flöte, Geige oder Klavier, sondern Glocke. Besser gesagt Glocken. Die sind zwischen 400 Kilogramm und 1,8 Tonnen schwer und hängen 30 Meter über dem Erdboden in Lüneburgs Altstadtkirche St. Michaelis. Und die Musikschüler sind keine Kinder, sondern Mitglieder der Glöckner-Gilde.

"Dass das große Geläut einer Kirche per Hand zu spielen ist und die neun Glocken dann auch noch eine Tonleiter bilden, ist eine echte Rarität", sagt Kantor Henning Voss (45). Herbert Lühr, der bis 2011 jahrzehntelang in der Altstadtkirche geläutet hat, schrieb in den Sechziger Jahren sogar, es sei eine deutschlandweite Rarität. Anfang 90 war Herbert Lühr, als er sein Amt aufgab - und sein Sohn gleich mit. Da stand die Gemeinde zwar mit einem großartigen Instrument da - aber ohne Musiker.

Kantor Voss suchte nach einer Lösung und gründete die Glöckner-Gilde: Etwa zehn Frauen und Männer hatten Lust, ein Instrument zu lernen, auf dem sie nicht üben können, und bei dem die gesamte Altstadt Lüneburgs mithört, wenn sie es spielen.

Wie Günther Zamel und Tilman von Cramer. Sobald sie sonntags um 9 Uhr die schiefen Stufen zum Turm hinaufgestiefelt sind, steuert einer von ihnen den Sicherungskasten an. "Am Anfang haben wir immer noch einen DIN-A4-Zettel mitgenommen, auf dem alles draufsteht", sagt Tilman von Cramer und lacht. Heute braucht der Arzt die Reihenfolge auf Papier nicht mehr.

Eingehalten werden muss sie trotzdem: Die Elektrik muss ausgeschaltet sein, damit die Stundenglocke nicht gerade dann automatisch schlägt, während sie das Seil um den Klöppel wickeln wollen. Ihre ersten Choräle spielen die Glöckner gegen 9.30 Uhr, danach müssen sie die Glocken neun und zehn von ihren Seilen befreien und ans Stromnetz anschließen - sonst wäre es zum Vaterunser in der Kirche still. Sobald dann das Handy im Glockenstuhl klingelt und der Küster Bescheid gibt, dass der Gottesdienst beendet ist, stellen sie wieder um auf manuellen Betrieb: für die Schlusschoräle.

Die Seile - am Klöppel festgezurrt - endet an großformatigen Holztasten, die nebeneinander waagerecht in die Luft ragen. Jeder Hebel reagiert anders: Der eine wäre mit einem einzigen Finger zu spielen, ein anderer bewegt sich nur nach unten, wenn mit vollem Körpereinsatz gedrückt wird.

Notenlesen können muss ein Glöckner übrigens nicht: Gespielt wird nach Zahlen. Eine fette Zahl ist eine halbe Note, eine normale eine Viertel, eine dünne eine Achtel. Und eine eins ist die Glocke Nummer eins.

"Mir war sofort klar, dass ich das machen möchte", erinnert sich Tilman von Cramer an den Moment, als der Kantor nach Verstärkung rief. "Das ist ein einmaliges Instrument und eine einmalige Chance." So einmalig, dass der Spieler schon mal im wahrsten Sinne des Wortes in Rausch geraten und ein wenig abseits der Zahlen auf dem Papier spielen kann, wie Günther Zamel lächelnd gesteht - denn genau das passiert ihm hin und wieder: "Das Spiel mit den Glocken hier oben ist wirklich berauschend."

Und zwischen dem Umschalten, zwischen dem Spielen? "Da gucken wir aus dem Fenster", sagt Günther Zamel und lacht. Oder sie steigen hinunter zu den Kollegen der Kantorei und singen mit - je nach Laune, und vor allem je nach Temperatur. Denn die häufigsten Einsätze bietet ausnahmslos der Dezember - und da wärmt auch die beste Thermowäsche nicht so lange, wie ein Gottesdienst dauert.

Ist der Advent Hochsaison Nummer eins im Jahr, ist der Frühling Hochsaison Nummer zwei: Die Glöckner spielen zu allen Festgottesdiensten, zu den Konfirmationen, zu Himmelfahrt und am Pfingstsonntag. Die Thermounterwäsche brauchen Günther Zamel und Tilman von Cramer im Augenblick nicht mehr - und den DIN-A4-Zettel mit der Gebrauchsanweisung lassen sie auch schon lange unten liegen. Sie haben ja den gesamten Ablauf im Kopf.