Kunstprojekt in Harburg: Früherer Erste-Klasse-Wartesaal wird wiedereröffnet und verwandelt sich in einen japanischen Zengarten.
Harburg. In Harburg öffnet morgen Hamburgs schönster Bahnhofswartesaal. Nirgendwo in der Stadt warten Bahnreisende in einem extravaganteren Ambiente: In einem gemeinsamen Kunstprojekt verwandeln die Hamburger Noroomgallery und der Kunstverein Harburger Bahnhof den früheren Wartesaal für Reisende der Ersten und Zweiten Klasse in einen 356 Quadratmeter großen japanischen Zengarten, komplett mit Teebar und Live-Musik. Die Eröffnung ist am Freitag, 28. September, um 19 Uhr. Auf jeden Fall bis zum 28. Oktober steht die Ruheoase über den Fernzuggleisen allen Reisenden und Kunstkennern jeden Tag von 6 bis 22 Uhr offen.
13 Tonnen Kies haben vier Helfer mit Schubkarren in den früheren Wartesaal verfrachtet. Der Bühnenbildner Urs Ulbrich hat daraus einen anthrazitfarbenen See geformt und einen Ort geschaffen, der nur ein paar Meter von der hektischen Bahnhofswelt entfernt eine Insel der Ruhe darstellt. Über einen Pfad aus Quarzitsteinen und Holzstegen gelangen Besucher hinüber zur Teebar. Monolithe ragen als Blickfang aus dem steinernen See heraus.
"Es ist die künstlerische Adaption, sozusagen die Harburg-Variante eines Zengartens", sagt Jan Holtmann. Der Hamburger Künstler ist dafür bekannt, künstlerisch die Funktion von Räumen zu verändern. Von ihm stammt die Idee, den früheren Wartesaal, in dem heute der Kunstverein Harburger Bahnhof beheimatet ist, wieder zu einem Ort des Verweilens für Reisende zu machen.
Auf Holtmann geht auch der spannende Raumtausch zurück, auf den sich der Kunstverein Harburger Bahnhof nun einlässt: Während die Öffentlichkeit den einstigen Wartesaal zurückerhält, ziehen die beiden künstlerischen Leiterinnen des Kunstvereins, Isabelle Busch und Franziska Solte, für die vier Wochen Projektdauer und für alle Reisenden sichtbar in den gläsernen Wartepavillon der Deutschen Bahn über den Fernzuggleisen 3 und 4, in dem die portugiesische Künstlerin Leonor Antunes ausstellen wird. "Arbeitsform: Rochade" ist deshalb auch der Titel des Kunstprojektes im Harburger Bahnhof. Was sich mit der Raumrochade für den Kunstverein verändere, das interessiere ihn besonders, sagt Jan Holtmann.
Wie zu hören ist, empfindet die Künstlerin aus Portugal ein Büro des Kunstvereins inmitten ihrer Ausstellung als deplatziert. "Vielleicht müssen wir neben dem Glaspavillon sitzen", unkt Isabelle Busch, "aber das dürfte im Herbst etwas kalt werden." Noch sei offen, wo der Kunstverein in den nächsten vier Wochen nun wirklich bleiben wird.
Vor 100 Jahren saßen die betuchten Reisenden in ihrem exklusiven Wartesaal im Harburger Bahnhof unter stattlichen Palmen an gedeckten Tischen. Der Gastronom Christian Heeschen hat den Erste-Klasse-Wartesaal bewirtschaftet. Exotische Schildkrötensuppe habe auf dem Speiseplan gestanden, heißt. Der Saal im kolonialen Prachtstil erinnerte an einen Wintergarten.
An diese Tradition und Funktion des Wartesaals wollen die Noroomgallery und der Kunstverein mit der für vier Wochen befristeten Neubelebung anknüpfen - ohne das historische Vorbild einfach nur nachzubauen. Mit seiner Idee eines japanischen Zengartens interpretiert Urs Ulbrich den Wartesaal aus der Kaiserzeit künstlerisch neu und transportiert ihn in das 21. Jahrhundert. Ein simples Imitat kam für ihn nie in Frage. "Ich hatte Angst vor einem Haufen Sperrmüll mit ein paar Palmen darin", sagt der Bühnenbildner.
Mit der künstlerischen Adaption eines Zengartens zelebriere er die leere Fläche, die Ruhe und Klarheit ausstrahle. Gleichzeitig biete die Neuinterpretation des Raumes Reminiszenzen an den früheren Edelwartesaal aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Hohe Bambusstangen symbolisieren die Palmen von früher. Aus dem früheren Bahnhofsrestaurant ist ein Teehaus geworden. Reisende haben hier in den nächsten vier Wochen die Auswahl zwischen drei Sorten japanischen Tees. Geplant ist auch täglich Live-Musik. Ob die Deutsche Bahn auf die Idee kommt, den Bahnhofs-Zengarten dauerhaft erhalten zu wollen?