Kunstprojekt im Bahnhof reaktiviert den Erste-Klasse-Salon. Drei Wochen lang lädt der prächtige Kaisersaal zum Verweilen ein. Zeitzeugen gesucht.

Harburg. Der frühere Wartesaal für Reisende der Ersten und Zweiten Klasse im Harburger Bahnhof wird wiedereröffnet. Begrenzt für die Dauer von drei Wochen macht der Kunstverein Harburger Bahnhof in Zusammenarbeit mit der Noroomgallery ab dem 30. September den prächtigen, 356 Quadratmeter großen Saal aus der Kaiserzeit wieder zu einem Ort des Verweilens. Harburg dürfte dann Hamburgs schönsten und exklusivsten Bahnhofswartesaal zu bieten haben. Immerhin handelt es sich um den einzigen aus dem späten 19. Jahrhundert erhaltenen Wartesaal im Hamburger Raum.

Zurzeit ist der ehemalige Wartesaal Heimat des Kunstvereins. Für die Projektdauer von drei Wochen kommt es zum spannenden Raumtausch: Bahnreisende erhalten den Ausstellungsraum in seiner ursprünglichen Funktion als Wartesaal zurück. Der Kunstverein zieht vorübergehend in den nüchternen gläsernen Wartepavillon über den Fernzuggleisen ein, den die zeitgenössische Künstlerin Leonar Antunes "einrichten" wird. Die Portugiesin ist bekannt dafür, veränderte Größenverhältnisse in Pavillonstrukturen zum Gegenstand ihrer Kunst zu machen.

Die einzige bekannte historische Ansicht des Edelwartesaals im Harburger Bahnhof hat das Helms-Museum bewahrt. Das Foto, das um das Jahr 1905 entstanden ist, dient als Postkartenmotiv und zeigt den damals von Christian Heeschen bewirtschafteten Wartesaal in kolonialem Prachtstil. Menschen sitzen unter stattlichen Palmen an gedeckten Tischen. Exotische Schildkrötensuppe soll auf dem Speiseplan gestanden haben. Der Saal erinnerte an einen Wintergarten. In einer Annonce aus dem Jahr 1907 bezeichnet der Gastronom den "aufs prachtvollste ausgestatteten Wartesaal" unbescheiden als beliebtesten Aufenthalt für Familien und Gesellschaften.

Diese Gastlichkeit und die ursprüngliche Funktion als Wartesaal will der Hamburger Künstler Jan Holtmann voraussichtlich zusammen mit einem Architekten und einem Bühnenbildner dem jetzigen Ausstellungsraum als Aktion des künstlerischen Projektes Noroomgallery zurückgeben. Holtmann verändert künstlerisch die Funktion von Räumen. Er hat vor kurzem mit seinem Openroom Artisthotel im Hamburger Schanzenviertel auf sich aufmerksam gemacht. In einer Pension hat er zusammen mit dem Bühnenbildner Urs Ulbrich mit Holzwohnboxen begehbare Installationen geschaffen, in denen Künstler kostenlos übernachten können.

Was erwartet die Reisenden, wenn die Noroomgallery dem früheren Wartesaal aus der Kaiserzeit künstlerisch seine ursprüngliche Funktion zurückgibt? "Es wird kein Remake des historischen Wartesaals geben, aber seine Funktion wiederbelebt", sagt Franziska Solte, neben Isabelle Busch künstlerische Leiterin des Kunstvereins Harburger Bahnhof. Das prächtige Restaurant von Christan Heeschen wird also nicht als Nachbau wiederauferstehen.

Assoziationen an den mehr als 100 Jahre alten Wartesaal sind aber durchaus gewollt. Franziska Solte, Isabelle Busch und Jan Holtmann beraten zurzeit noch über verschiedene Entwürfe. Deshalb geben sie sich noch bedeckt. Die Idee, die Aufenthaltsqualität mit Olivenbäumen zu steigern, haben sie inzwischen verworfen. Palmen aber, wie damals, könnten eine Option sein, verrät Jan Holtmann. Im Unterschied zum späten 19. Jahrhundert wird der wiederbelebte Wartesaal im Harburger Bahnhof allen Menschen offenstehen - nicht nur den Reisenden der Ersten und Zweiten der damals insgesamt vier Klassen. Während der Dauer des Kunstprojektes öffnet der Wartesaal von morgens früh bis spät abends. Der Verkauf von Getränken und Snacks ist vorgesehen - eine Reminiszenz an die historische Funktion. "Und sonntags gibt es Tanztee", sagt Jan Holtmann.

Der Hannoveraner Architekt Hubert Stier hatte den 1897 vollendeten Harburger Bahnhof in beeindruckender Monomentalität entworfen. Er vereinigte dabei romanische und norddeutsch-gotische Architekturformen. Der Prachtbau für damalige Verhältnisse galt als Demonstration der Stärke: "Konkurrenz- und Leistungsfähigkeit gegenüber den nordelbischen Städten sollten hier deutlich gemacht werden", heißt es in dem Band "Harburg und Umgebung" der Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland. Ein gleichzeitiger Bahnhofsneubau in Altona und Planungen in Hamburg hatten das Konkurrenzdenken verschärft.

Unbekannt ist, wie lange der Wartesaal der ersten Klasse im Harburger Bahnhof betrieben wurde. Isabelle Busch geht davon aus, dass Reisende bis in die 50er-Jahre dort verweilt haben. Jan Holtmann sucht Zeitzeugen, die sich an den Wartesaal erinnern. Wie haben Reisende ihn empfunden? Was hatte die Küche zu bieten? Der Konzeptkünstler erhofft sich eine Antwort darauf, ob damals möglicherweise eine Kultur des Wartens existierte, die heute verloren gegangen ist.

"Man sieht heute Reisende mit dem Handy herumspielen oder lustlos auf ihrem Brötchen herumkauen", sagt er. Wie sah Warten damals aus? Hatte der Wartesaal vor 100 oder 50 Jahren sogar noch eine zweite Funktion als Sozialraum, als Ort der Geselligkeit und Gespräche? Viele Fragen, die noch zu klären sind.

Die Noroomgallery bittet Zeitzeugen, sich zu melden: Telefon 040/43 25 10 62 oder per E-Mail: wartesaal@noroomgallery.com