100 Tage nach dem Start hat die neue Integrierte Gesamtschule Winsen viele zufriedene Schüler und ein Kollegium mit zahlreichen Ideen.

Mit dem Klingen des Metallplättchens, das Michaela Peters angeschlagen hat, werden die Kinder im Klassenraum langsam ruhig. "Wie war der Tag heute?" Die Lehrerin blickt in 30 kleine Gesichter, manche Kinder strahlen, andere runzeln die Stirn oder rutschen auf ihrem Stuhl hin und her. Alle recken einen Arm in die Höhe: Daumen hoch, runter oder zur Seite. Ihr Votum ist wohl die deutlichste Rückmeldung an die Kollegen der neuen Integrierten Gesamtschule Winsen.

Im Sommer ist die lang umstrittene Schule für alle Kinder, so ihr Grundgedanke, gestartet. Die Planungsgruppe hatte sich viel vorgenommen, das neue Bildungsangebot sollte eine wirkliche Alternative für die Schüler in der Stadt werden. Nach 100 Tagen läuft vieles bereits gut, anderes musste aufgeschoben oder der Praxis angepasst werden - und noch immer arbeiten die Pädagogen mit Hochdruck an der Umsetzung ihrer vielen Ideen.

"Kinder sind sehr unterschiedlich. Das wollen wir nicht nur hinnehmen, sondern nutzen", sagt Matthias Aschern, der die Schule mit seiner Kollegin Sybille Winter kommissarisch leitet. Beide haben zuvor als Schulentwicklungsberater für die Landesschulbehörde gearbeitet. "Wir haben viele gut Ideen aus anderen Schulen eingesammelt", sagt Winter. Wie die Elternabende nur für die Mütter und Väter der Kinder einer Tischgruppe. "Das haben wir allerdings bisher leider nicht geschafft, weil wir so viel zu tun haben." Auch andere Konzepte, wie zum Beispiel zum Fundraising, liegen noch in der Schublade.

Die pädagogische Arbeit gehe erst einmal vor, sagt Aschern. "Im Moment wollen wir das Wachsen der Schule begleiten." Dazu gehöre auch, mit den Kollegen ein gutes Tempo zu finden. "Wir haben ein gigantisches Engagement vorausgesetzt. Das müssen wir jetzt kanalisieren, damit uns die Leute nicht verglühen. Schließlich haben wir einen Marathon vor uns und keinen 800-Meter-Lauf." Zurzeit werden weitere Lehrer für den nächsten Jahrgang gesucht.

Im ersten Abschnitt sind bereits einige Projekte gelungen, so haben sich die 150 Schüler der sechs fünften Klassen in der wöchentlichen Projektzeit mit dem Thema "Schule früher" beschäftigt und in Kostümen ihre Ergebnisse vorgeführt. In einem Wettbewerb ist das neue Logo der Schule entstanden: zwei Figuren wenden sich zueinander, umschlossen von den Buchstaben IGS. Das I-Tüpfelchen ist ein Hinweis auf die Kinder mit besonderem Förderbedarf im Bereich Lernen. Diese i-Kinder dürfen anfangs zum Beispiel ihre Antworten malen statt schreiben. und die Kooperationsklasse. "Erstmal geht es darum, Erfolgserlebnisse zu schaffen", sagt Aschern.

Das gilt auch für die Koop-Kinder, wie die sieben Schüler der Kooperationsklasse 5a genannt werden. Sie werden besonders in ihrer geistigen Entwicklung gefördert. Ihr Klassenraum ist durch eine Tür mit dem der 5b verbunden, oft haben die Kinder gemeinsam Unterricht. Dann stehen ihnen drei Pädagogen zur Seite, wenn jedes Kind seinen Fähigkeiten entsprechende Aufgaben löst. Genauso habe man aber die starken Schüler im Blick, sagt Aschern, denn: "Langeweile ist tödlich". Deshalb gebe es sowohl gemeinsame als auch getrennte Lernphasen. "Die Starken müssen auch mal wegziehen dürfen."

An diesem Tag beschäftigen die Schüler sich mit Jahreszeiten-Gedichten. Aber zuerst heißt es im Chor: "Guten Morgen." Und gleich nochmal: "Bonjour." Die Schüler der 5a präsentieren zur Einstimmung ein Herbstgedicht - mit Gebärden, die die 5b erraten muss: Baum, Blätter, Herbst. Dann erscheinen an der interaktiven Tafel, dem Active Board, die Planungen für die kommenden 80 Minuten. An verschiedenen Lyrik-Stationen sollen die Schüler selbstständig Aufgaben lösen, den Schwierigkeitsgrad - ein, zwei oder drei Sterne - wählen sie selbst.

Michaela Petersen ermuntert zur Zusammenarbeit. "Die Schüler, die fertig sind, docken sich bei den anderen an." Enya und Svea ziehen sich mit ihren Büchern an einen Tisch im Flur zurück. "Weißt du, wie der Sommer klingt?", fragt Enya. Sie hat bereits ein Gedicht dazu geschrieben und hilft nun der Mitschülerin. "Es muss sich auch nicht reimen." Svea überlegt, Vogelgezwitscher fällt ihr ein und kreischende Kinder beim Spielen. Aber wie schreibt man eigentlich "Kreischen"? Enya springt auf. "Ich hol mal schnell einen Duden."

Im Klassenraum schneiden Linus und Melina für die Zusatzaufgabe "Schattenspiel" zu einem Winter-Gedicht von Christian Morgenstern Papierfische aus. "Am Anfang habe ich eher die Aufgaben mit zwei Sternen genommen", sagt der Zehnjährige. "Aber jetzt mache ich meistens drei Sterne."

An Station 3 "Bildwörter - Wortbilder" hilft Schairena, 10, ihrer Mitschülerin Melina aus der 5a, ausgeschnittene Wörter in die Lücken im Gedicht zu kleben. Marion Schmidtlein hat die beiden im Blick. "Es ist toll, wie selbstverständlich die Kinder der beiden Klassen miteinander umgehen. Das klappt sehr gut." Das Sozialverhalten sei verblüffend, sagt auch Michaela Petersen. "Die Kinder drängen sich aber nicht auf, sie helfen nur, wenn es notwendig ist. Und dabei verlieren die meisten auch ihr eigenes Ziel nicht aus den Augen." Nach dem erfolgreichen Start gelte es nun, die Rituale und Methoden zu festigen, um den Kinder sowohl Sicherheit zu geben als auch ihre Eigenständigkeit zu fördern. Petersen hat Freude an ihrer Arbeit. "Ich genieße es, mit den motivierten Kollegen zusammenzuarbeiten. Das kriegen wir von den Schülern zurück." Immer wieder hat Collin "Haus" auf sein Blatt Papier geschrieben, bis aus den Wörtern ein Haus entstanden ist. "Jetzt muss ich mir eine Unterschrift vom Experten holen, das macht besonders Spaß", sagt er und läuft aufgeregt zur bunt behängten Wand. Auf einer Liste ist Linus als Experte für Wortbilder aufgeführt, er kontrolliert, ob seine Mitschüler die Aufgabe richtig gelöst haben. Collin gefällt es an der neuen Schule. "Das ist ganz cool hier", sagt er und wischt sich mit einer schnellen Handbewegung die blonden Haare aus der Stirn.

Vom Nachbartisch guckt Anouk hinüber. Die Zehnjährige hat sich am Schreiben eines "Elfchens", eines kurzen Gedichts, versucht. "Dreimal hab ich das neu geschrieben, dann hat es endlich geklappt." Jetzt sucht sie auf der Liste den Elfchen-Experten, wird an der bunten Wand aber abgelenkt. Zwei Fotos von Mitschülern erinnern an nahende Geburtstage. "Dann schmücken wir den Platz des Geburtstagskinds mit Blumen", sagt Anouk. Auch sie fühlt sich wohl in der IGS. Dass die Klasse dreimal in der Woche bis nachmittags Unterricht hat, stört sie nicht. "Schule ist doch total cool und das Essen ist der Mensa schmeckt auch richtig gut." Enya, die zurück ins Klassenzimmer gekommen ist, sieht das ähnlich. "Der Unterricht ist richtig gut. Da kriegt man gar nicht mit, dass die Schule länger dauert." Und Carolin meint: "Es ist lustig, dass wir keine Hausaufgaben bekommen."

Denn die IGS ist eine Schule mit vielen "Ohnes", wie Matthias Aschern sagt. Es gibt weder Hausaufgaben noch Noten, Sitzenbleiben, Klassenbuch oder Pausengong. Letzteres kommt bei den Kinder allerdings gar nicht so gut an. "Ich finde es doof, dass es keine Klingel gibt. Da muss man immer auf die Uhr gucken, wie lange die Pause noch dauert", sagt Joel, 11, und bekommt viel Zustimmung von seinen Mitschülern. Von den Eltern gebe es viele zufriedene Rückmeldungen , sagt Sybille Winter und zeigt eine E-Mail: Eltern berichten, dass ihre Tochter fast immer fröhlich sei und Schule jetzt zuhause einfach kein Thema mehr sei. "So viel positives Feedback habe ich noch nie erlebt", sagt Winter. Allerdings kämen auch viele Nachfragen von Eltern, ob sie sich vielleicht Sorgen machen sollten, weil sie nicht mehr wie gewohnt über die Hausaufgaben ihrer Kinder den Schulstoff verfolgen. "Manche Erwartungen der Eltern haben wir radikal enttäuscht", sagt Matthias Aschern. Er guckt dabei sehr zufrieden.

Die Stunde geht dem Ende zu. Die Schüler holen ihre "Logbücher" raus und notieren: Was habe ich heute geschafft? Und das nehme ich mir vor. "Viele von euch waren heute fleißig, einige sind an den Aufgaben hängengeblieben", sagt Michaela Petersen. Dann ruft sie zum Feedback per Daumen auf. Wenige fanden die Stunde blöd, andere so là là. Viele sind trotz einiger Schwierigkeiten zufrieden: Daumen hoch.