Silke Fischer vom Deutschen Zentrum für Märchenkultur erzählt, warum Kinder sich gerne gruseln

Hamburg. Das Deutsche Zentrum für Märchenkultur mit Sitz in Berlin versucht kulturelle und gesellschaftliche Aspekte des Märchens zu vermitteln. Silke Fischer gehört zum Vorstand, ist also wahrlich eine Märchenexpertin.

Hamburger Abendblatt:

Dem bösen Wolf in Rotkäppchen wird der Bauch aufgeschnitten. Tauben picken Aschenputtels Stiefschwestern die Augen aus. Können Kinder Märchen in ihrer Brutalität überhaupt ertragen, Frau Fischer?

Silke Fischer:

Ja, in den Märchen geht es richtig zur Sache. Kinder mögen das aber. Sie können sich wohlig gruseln. Sie sind in einem geschützten Raum, bei der Mutter oder dem Vater. Sie empfinden es auch gar nicht so gruselig, wie wir immer glauben. Denn es heißt ja nicht, dass Blut spritzt oder der Wolf vor Schmerzen schreit. Das Schreckliche wird gar nicht ausgewalzt. Das ist das Tolle an den Märchen: Die Kinder müssen sich das Geschehen selber vorstellen und jedes Kind macht es nur so weit, wie es das selbst ertragen kann.

Wie sollten Eltern reagieren, wenn ein Kind dennoch Angst bekommt?

Fischer:

Man muss natürlich schon schauen, wie alt das Kind ist und wie viel es aushalten kann. Reagiert ein Kind besonders empfindlich auf bestimmte Sachen oder regt sich auf, sollte man auf jeden Fall nachfragen. Märchen bieten auch die Chance, an Verborgenes heranzukommen, weil sich die Kinder mit den Helden identifizieren. Viele Psychologen benutzen die Märchengeschichten, um zu erfahren, von welchen Problemen die Kinder geplagt sind. Mit Hilfe der Geschichten können Eltern ihren Kindern beibringen, mutig voranzugehen und sich Hilfe zu holen.

In fast allen Geschichten warten junge Frauen auf den Prinzen, der sie erlöst und heiratet. Wird da Mädchen nicht etwas völlig Unzeitgemäßes vermittelt?

Fischer:

Alle Mädchen wollen schön sein und wollen die attraktivsten Jungen abkriegen. Sie und ich haben uns doch auch vorgestellt, einen Prinzen zu finden. Ich bin absolut nicht der Meinung, dass Märchen zum passiven Stillhalten aufrufen und Mädchen sich das Haar kämmen bis der Prinz vorbeikommt. Beim Froschkönig hat die Königstochter den Mut, den Frosch an die Wand zu klatschen. Auch hier ist die Prinzessin aktiv und bekommt dann ihren Prinzen. Ich finde, die Märchen sind für Kinder zeitgemäßer denn je.

Warum?

Fischer:

Heute wissen doch die Kinder gar nicht mehr, was Gut oder Böse ist und was einen Wert hat. Die Märchen geben Halt. Sie sind gut strukturiert, und die Kinder sehen, dass die Protagonisten ähnliche Fehler machen wie sie selbst. Aschenputtel ist ein gutes Beispiel für die heute üblichen Patchwork-Familien. Partner mischen sich, neue Geschwister kommen hinzu. Märchen erzählen von einer Überwindung von Widerständen. Hänsel und Gretel werden in den Wald geschickt. Schneewittchen wird von der bösen Königin gejagt. Obwohl das schlechte Ausgangssituationen sind, lernen die Kinder, wenn man freundlich ist, sich an Regeln hält und Freunde sucht, wird am Ende alles gut. Die Geschichten vermitteln: Du musst selber etwas tun, das Glück fällt nicht vom Himmel.

Was ist Ihr Lieblingsmärchen?

Fischer:

Bei mir zu Hause wurde viel vorgelesen. Eines meiner Lieblingsmärchen ist Jorinde & Joringel, was im Grunde genommen eine Geschichte über Verliebte ist. Vielleicht liegt es daran, dass ich damals auch verliebt war.