Die kleine Seefahrerkirche und der Inselfriedhof von Krautsand belegen, dass seit jeher das Wasser die Geschicke der Elbinsel bestimmte.

Krautsand. Der Putz hat seit 1976 keinen Halt mehr gefunden. "Die Mauern sind immer noch feucht", sagt Bernhard Pippirs, Pastor der Krautsander Kirche "Zum guten Hirten", und fährt mit seinen Fingern über die dunklen Stellen an den Wänden. Auch nach 35 Jahren sind die Spuren der letzten großen Sturmflut, die in das Gotteshaus schwappte, nicht verschwunden. Die kleine Seefahrerkirche ist eben immer noch eine Notkirche, ein improvisierter Bau unmittelbar am Elbdeich.

Das Wasser und Krautsand, seit Ewigkeiten sind sie untrennbar miteinander verbunden. Jahrhundertelang bestimmten Sturmfluten die Geschicke der Elbinsel, die zum Landkreis Stade gehört. Erst vom Jahr 1976 an wurde sie mit einem Deich vor Hochwasser geschützt. Die Einheimischen auf Krautsand, so sagt man, sind entweder Schiffer, Landwirte oder gehören zum kleinen Rest, der einem Handwerk nachgeht oder ein Geschäft betreibt. Mittlerweile dürfte sich aber auch der Tourismus zu einer weiteren Säule im Inselleben entwickelt haben.

Fährt man in den Ort hinein, ist die Seefahrerkirche selbst im Nebel schon von weither zu sehen. Eine Bastion des Glaubens in diesem Landstrich am Ende der Welt, der in früheren Jahrhunderten scheinbar gottverlassen und den Gezeiten schutzlos ausgeliefert war. Umrahmt wird die Kirche von einem Friedhof, der den Namen "Inselfriedhof" trägt. Hier liegen die Einheimischen begraben, deren Leben traditionell im Einklang mit dem Wasser stand. Auf vielen Grabsteinen prangen Schiffsmotive und Anker, die davon künden, wie groß die Liebe der Verstorbenen zur Seefahrt war.

"Heimat", sagt Pippirs bei einem Gang über den Friedhof, "ist dort, wo man die Namen der Toten kennt." Und tatsächlich gilt dieser Spruch des deutschen Theologen Fulbert Steffensky im besonderen Maße wohl für Krautsand, wo die Kirchengemeinde nur 350 Mitglieder zählt.

Eine Ausnahme ist jedoch in der hinteren Ecke des Inselfriedhofs zu finden, die jedes Jahr vor allem zum Totensonntag, der an diesem Wochenende begangen wird, ins Gedächtnis rückt. Die Kirche hat diese Fläche an die Feuerbestattungen Stade R.V. übergeben, die dort teilanonyme Bestattungen anbietet. Verstorbene aus der gesamten Metropolregion Hamburg finden dort ihre letzte Ruhestätte. Sie wählen Krautsand, weil sie von der Lage des Inselfriedhofs fasziniert sind, ihr Herz der Seefahrt gehört - oder die niedrigen Kosten für teilanonyme Urnenbestattungen sie einfach überzeugt haben.

"Es ist nun mal eine Tatsache, dass sich heutzutage viele Leute eine klassische Beerdigung nicht mehr leisten können", sagt Svend-Jörk Sobolewski, der geschäftsführende Vorstand der Feuerbestattungen. Diese Entwicklung sei auch gar nicht neu, wenngleich sie eher in den größeren Städten Thema ist als in kleinen Ortschaften wie Krautsand. Der Inselfriedhof sei ein Ort, an dem die teilanonym Bestatteten jedenfalls nicht ausgegrenzt werden, sagt Sobolewski, selbst Bewohner Krautsands. "Viele möchten nicht namenlos begraben werden, nur weil ihnen das Geld fehlt." Bei Pastor Pippirs, das wisse er, sei die Grabstätte in guten Händen.

Jedes Jahr zum Totensonntag, den Pippirs selbst lieber als Ewigkeitssonntag bezeichnet, schreibt der Pastor die Angehörigen derjenigen an, die im vergangenen Jahr verstorben sind, und lädt sie zum Gottesdienst in der Seefahrerkirche ein. Bis zu 180 Briefe habe er diesmal verfasst, sagt er. Manche gingen sogar nach Süddeutschland und in die USA. "Wir wollen es den Leuten einfach anbieten, sich noch einmal richtig von den Toten zu verabschieden." Zur Beerdigung selbst seien viele gar nicht gekommen, somit gebe es nun eine neue, letzte Chance.

Die Resonanz ist immer unglaublich. Selbst wenn letztlich nur 50 bis 60 tatsächlich kommen, rufen fast alle an und begründen ihr Fernbleiben. "Ich verspreche dann, dass ich stellvertretend für sie eine Kerze anzünde." Man könnte sagen, dass die Kirchengemeinde ihrem Namen "Zum guten Hirten" in solchen Momenten wohl besonders gerecht wird. "Das Leben hat Brüche, es gibt Katastrophen, mit der Trauer darüber muss jeder irgendwie umgehen." Die Kirche könne nur anbieten, den Trauernden beizustehen und sie als guter Hirte nicht alleine zu lassen.

Vielleicht ist es auch die besondere Historie der Elbinsel, die Pastor Pippirs dazu veranlasst, seine Schäfchen nicht aus dem Blick zu verlieren. In früherer Zeit, als Krautsand noch nicht wie heute durch zwei Brücken mit dem Festland verbunden war, war die Insel bei Eis oder Sturmfluten von der Außenwelt abgeschnitten. Wer krank war, konnte keinen Arzt rufen, wer starb, erhielt keine letzte Ölung, und beerdigt wurde auch niemand. Nachdem sich die Inselbewohner lange mit Notgottesdiensten arrangiert hatten, erteilte ihnen die schwedische Königin 1670 endlich die Erlaubnis, eine Kirche zu bauen. 1682 weihten sie die Kirche ein und ersetzten sie 1845 durch das heutige Gotteshaus, das dennoch bis heute ein Provisorium bleiben sollte.

Pippirs kann aber noch eine andere Geschichte erzählen, die die Insel geprägt hat. Die Auswandererschiffe aus Hamburg hätten früher regelmäßig auf Krautsand Halt gemacht und die Kranken oder Pesttoten von Bord getragen, die sie nicht mit in die Neue Welt nehmen wollten. "Friedhof der Namenlosen" nannten die Einheimischen die Stelle, an der sie ihre Ruhestätte fanden. "Bei einer Sturmflut wurde dieser Friedhof irgendwann abgetragen."

Es ist dieses Schicksal der Namenlosigkeit, dass der Pastor den Verstorbenen unserer Zeit ersparen will. Deshalb sein Einsatz für den Urnenfriedhof, deshalb die Briefe an die Hinterbliebenen und die Kerzen, die er für die Toten anzündet. "Auf manchen Grabsteinen der Krautsander Familien stehen sogar die Namen von Familienmitglieder, die dort gar nicht bestattet sind", erzählt er und steckt die Hände tief in seine Jackentaschen. Der Wind weht kalt von der Elbe her aus Richtung Nordwesten. Die Männer waren ertrunken und wurden nie wiedergefunden. Aber den Angehörigen blieb wenigstens ihr Name als Erinnerung.