In Roydorf ist für ein Liebesspiel in der modernen Pferdezucht kein Platz mehr

Winsen. Ich weiß nicht, ob Ihnen das manchmal auch so geht. Wenn ich mit dem Auto über Land fahre und ein Fohlen auf der Koppel sehe, halte ich gelegentlich an, gehe an den Zaun und schaue zu. Wie das Kleine mir den Kopf zuwendet, neugierig die Ohren spitzt. Dann wendet es sich ab, macht ein paar unbeholfene Hüpfer, versteckt sich hinter der Mutter, schaut wieder mit großen Augen zu mir. Plötzlich springt es voller Übermut davon, rennt und kommt leichtfüßig und voller Stolz zur Mutter zurück. Die Kraft ist schon zu erkennen, die Eleganz der Bewegungen, die pure Lebensfreude. Davon nehme ich mir ein kleines Stückchen mit ins Auto.

Allerdings, wie Fohlen zustande kommen, daran mag ich inzwischen nicht mehr gerne denken. Natürlich, der Vorgang als solcher ist ja bekannt. Daran hat sich sicher seit einer Million Jahre, oder seit wann die Urpferde über die Steppen galoppierten, nichts geändert. Wie allerdings der Mensch das in den letzten 20, 30 Jahren reguliert und sozusagen in die Hand genommen hat - von natürlicher Paarung jedenfalls ist da nichts übrig geblieben. Der Hof Benecke in Roydorf mit den Stallgebäuden und einer Reithalle. "Deckstation" steht über der Einfahrt. "EU-Besamungsstation Lüneburg-Nord" ist die amtliche Bezeichnung.

Der erste Blick in das Herzstück der modernen Pferdezucht an der Elbe ist ernüchternd. Ein etwa 20 mal 20 Meter großer Raum mit kahlen Wänden. Mitten drin auf vier massigen Holzstempeln ein mächtiger runder Klotz. Der ist mit schwarzem Kunststoff bespannt. Mehr ist es nicht. Das Phantom. Der Stutenersatz für die Hengste bei ihrem allmorgendlichen Liebesdienst.

Draußen auf dem Kopfsteinpflaster sind unruhige Huftrapser zu hören. Chris Sachtleben führt "Heinrich Heine" am Zügel. Der Hengst ist aufgeregt, steigt hoch mit den Vorderhufen. Sein Wiehern erschallt über den Hof als Liebessignal für eine rossige Stute. Aber für den Erregten steht ja nur das schwarze Phantom bereit.

"Heinrich Heine", der sechs Jahre alte Rappe, bläht die Nüstern, trippelt ungeduldig, springt auf die Attrappe, rutscht herunter, energisch drängend macht er seinen zweiten Versuch. Der Hengst schachtet aus wie die Fachleute sagen, wenn seine Bereitschaft zur Paarung deutlich zu sehen ist. Rechts neben dem Phantom wartet Elmar Sicke. Er hält eine Art Rohr aus Leder und Kunststoff bereit. In das wird das Glied des Hengstes eingeführt.

"Willkommen in der modernen Pferdezucht", wie es auf der Internetseite der Roydorfer Deckstation aufleuchtet, die übrigens eine von elf Außenstationen des Niedersächsischen Landgestüts Celle ist. Es dauert nur kurz, dann hat "Heinrich Heine" seinen Liebensdienst für heute erfüllt.

Das Ejakulat in ein Messröhrchen gefüllt, zeigt 40 Milliliter. Elmar Sicke, genau wie Chris Sachtleben als Pferdewirtschaftsmeister angestellt beim Landesgestüt Celle, trägt das Gläschen mit dem wertvollen Inhalte in den Nebenraum. Hier wartet Katharina Schürmann, die Tierärztin. Sie nimmt ein paar Tropfen unter ihr Mikroskop. Im Blick eine weiße Fläche, auf der winzige Punkte mit einer Art Schweif hektisch herumwirbeln. "Da sind 291 Millionen Spermien auf einem Quadratmillimeter", erläutert die Tierärztin und tippt auf ihrem Taschenrechner. "Insgesamt also vier Milliarden 656 Millionen Spermien". - "Von der Zahl her wäre das ja Zweidrittel der Erdbevölkerung in diesen 40 Millilitern?"

Die junge Tierärztin schaut lächelnd zu mir hoch und nickt. "Es zählen aber nur die, die sich vorwärts bewegen", fügt Katharina Schürmann hinzu. "Das sind in diesem Fall etwa 40 Prozent. Danach teile ich das Sperma jetzt, mache vier ordentliche Portionen daraus. Es könnten mehr sein, aber die benötigen wir heute wohl nicht."

Angereichert mit Zucker, Magermilch und Alkohol wird die aufgeteilte Fortpflanzungskraft in Röhrchen gefüllt und im Kühlschrank aufbewahrt. In handlichen Frischhalte-Boxen können sie dann verschickt werden. "Innerhalb ganz Europas übrigens", wie Elmar Sicke erläutert. "Das allerdings funktioniert nur mit Eilkurieren, denn innerhalb von 24 Stunden muss die Besamung erfolgen. Viele der Züchter bringen ihre Stuten lieber direkt zu uns, wo ein Tierarzt die Besamung vornimmt."

Das Deckgeld für "Heinrich Heine" beträgt übrigens 500 Euro. Ob eine Stute gleich nach der ersten Besamung trächtig wird oder mehrere Versuche nötig sind, der Preis bleibt der gleiche. "Wie viele Fohlen kann so ein Hengst denn zeugen", will ich von Ole Köhler wissen, der 1990 die Besamungsstation in Roydorf mit aufbaute und sie seitdem leitet. "Zehn bis 20". - "Im Monat oder in einer Woche?" - "An jedem Tag, an dem er im Einsatz ist." Welcher Hengst für welche Stute, das bleibt natürlich das Wissen und oft auch das Geheimnis jeden einzelnen Züchters.

Von draußen führt Chris Sachtleben inzwischen "Don Frederico" zu seinem morgendlichen Einsatz. Wer den Hengst sieht, vergisst für einen Augenblick alles andere. Unter seinem schwarz-glänzenden Fell spannen sich kraftvolle Muskeln. Stolz hebt er den Kopf, wie eine selbstbewusste Diva. Ole Köhler reitet diesen "Don Frederico" bis zu Dressurprüfungen der höchsten, der S-Klasse. "Aber nur noch diesen Sommer", sagt der Obersattelmeister, "dann soll er sich ausruhen und frisch bleiben für seine Hauptaufgabe. Die Zahl seiner Nachkommen geht schon jetzt in die zigtausende. Und da kommen ja noch viele dazu".

Weil "Don Frederico" so begehrt ist, ist sein Sperma mit 950 Euro auch das teuerste in Roydorf. War, muss man allerdings sagen. Denn in diesem Frühjahr ist mit "Spörcken" ein jugendlicher neuer Star dazu gekommen, ersteigert für 350 000 Euro. "Spörcken" ist erst drei Jahre alt, wirkt noch jugendlich zierlich. Aber sein Urgroßvater ist "Weltmeyer", der wohl berühmteste Vererber in der hannoverschen Zucht, sein Großvater "Lauri" wiederum einer der bedeutendsten Warmblüter und der Vater "Sir Donnerhall" gewann in der Dressur das Bundes-Championat.

In den Zuchtbüchern sind übrigens immer nur die Namen der Hengste festgeschrieben, bei den Müttern steht nur Tochter von welchem Vater. Wenn die Stärken und herausragenden Eigenschaften eines Hengstes besonders vererbt werden sollen, ist eine gewisse Inzucht erlaubt. "Das Halbgeschwister gepaart werden, kommt durchaus vor", sagt Elmar Sicke. Ob sich Hengst und Stute mögen, spielt bei dem von uns Menschen entwickelten Fortpflanzungsakt ja ohnehin keine Rolle mehr. "Dabei gibt es Hengste, die beispielsweise Schimmel-Stuten nicht beachteten", sagt Elmar Sicke in Erinnerung an frühere Zeiten. "Oder sie konnten ein Stute aus anderen Gründen nicht riechen."

Diese letzte Freiheit, einem bereiten Weib die kalte Schulter zu zeigen, genießt in Roydorf nur noch "Weltruhm", der Dienstälteste unter den teuren Samenspendern. Dem 21-jährigen Rappen bleibt vorbehalten, was die Fachleute Natursprung nennen. In Roydorf hat man gerade neben dem älteren Herren eine junge Stute einquartiert. Eine Pferdemutter mit blauen Augen und fast weißem Fell, ein Cremelo also. Das Problem, die Stute hat ihr Fohlen dabei.

"Und sie spielt verrückt, sobald sie das aus den Augen verliert", erzählt Elmar Sicke diese ganz andere Paarungsgeschichte. "Würden wir aber das Fohlen beim Decken bei der Mutter lassen, könnte der Hengst recht unfreundlich zu ihm sein. Dann aber würde die Mutter ihr Fohlen verteidigen. Wir müssen ihnen Zeit lassen, damit die drei vertraut miteinander werden."

Die Hengste beenden am 1. August ihren Spendendienst. "Nach elf Monaten Tragzeit sollen die Fohlen möglichst im Mai und Juni geboren werden", so noch einmal Elmar Sicke, "das ist für ihre Aufzucht die beste Jahreszeit."