Dies ist die prämierte Kurzgeschichte von Ursula Schötzig

Nichts für Leute mit Platzangst, murmelte Petersen, während er im Gang stand. Pünktlich mit der Abfahrt hatte der Regen wieder eingesetzt.

"Der Kognak ist alle", hörte er aus dem Abteil hinter ihm.

Dann trink halt langsamer, grunzte er in seine Uniform, drehte sich um, schob die Schiebetür auf, zog die Gardine beiseite und nickte dem fetten Herren in der Weste freundlich zu.

"Tut mir leid", sagte Petersen höflich, "Kognak ist gerade aus, aber ich könnte Ihnen einen Rotwein anbieten", er ärgerte sich augenblicklich, weil Wieland vergessen hatte einzukaufen, Kognak war beliebt als Schlaftrunk.

"Ja, bitte", sagte die Weste.

"Gern", sagte Petersen, zog seinen Kopf aus dem Abteil, ging einige Schritte, verschwand in dem Kabuff am Ende des Ganges, tauchte mit einem Pappbecher samt schwankender, roter Flüssigkeit wieder auf, steckte seinen Kopf wieder durch die Gardine, überreichte mit einer eleganten Handbewegung den Pappbecher, ließ Münzen klimpernd in seiner Hosentasche verschwinden und schob die Tür wieder zu. Abteil sechs, die Tür quietschte noch immer.

Dann stellte er sich wieder in den Gang. Draußen tauchte die Welt unter, er presste seine Nase an die Scheibe und fand es auch nach Jahren noch merkwürdig, dass er sich stehend parallel zur Erdoberfläche bewegen konnte und dabei vorwärts kam. Die Dunkelheit war vertraut, er kramte die Münzen hervor. Ein belgisches Zwei-Euro-Stück, zwei französische Zwei-Euro-Stücke. In finanzieller Hinsicht hatte er schon dreimal komplett Europa durchreist.

Eine Abteiltür weiter vorn ging auf.

"Toiletten da hinten?", fragte eine Frau im grünen Jogginganzug. "Toiletten da hinten", sagte Petersen und zeigte in die andere Richtung. Die üblichen Vorschlafrituale, deshalb war es üblich, dass immer einer von ihnen beiden griffbereit im Gang stand. Er fing an, die Gleisabschnitte zu zählen. Kurz vor 137 blickte er auf. Perfekt, die Toilettentür ging wieder auf. Männer waren gewöhnlich nach 20 bis 50 Gleisabschnitten fertig, bei Frauen dauerte es länger. Petersen nahm sich vor, bei seinen nächsten Fahrten ein Buch zu schreiben über die relative Aufenthaltslänge von Reisenden in Zugtoiletten.

Eine Abteiltür knarrte. Petersen brauchte sich nicht umzudrehen, er erkannte ihn schon an seiner etwas ungelenken Art, den Abteiltürgriff anzufassen. Wieland kam hervorgekrochen aus seinen rosa Stoffgardinen, hinter denen er sich häuslich eingerichtet hatte. Soweit Petersen es beurteilen konnte, lebte Wieland im Zug, nie erzählte er etwas von einem Zuhause, was den Schluss zuließ, dass er einfach kein Zuhause hatte, ganz unauffällig hatte er im Laufe der Jahre seine wenige Habe Stück für Stück mitgebracht, Bücher, alte Schallplatten, drei Kochtöpfe lagerten unterm Sitz, diverse Hosen und Jacketts waren an den Garderobenhaken verteilt. Und die rosa Plastiktüte hing immer an der gleichen Stelle, am Fenster, der Haken in Fahrtrichtung.

"Nass draußen", sagte Wieland und gab ein altersbedingtes Schnaufen von sich.

"Ja", sagte Petersen, "der Kognak war auch alle". "Ja", machte Wieland, "die Flasche lagert bei mir unterm Sitz, ich hatte vergessen, sie rauszustellen. Lust auf einen Absacker?"

Eine Weile standen sie so da, zwei alte Männer in blauer Bundesbahnuniform, und sahen dem Regen draußen zu, der jetzt waagerecht fiel, alle zwei Sekunden wackelten sie gleichzeitig mit den Köpfen, wenn der Zug über die Gleisabschnitte ruckelte.

"Meinetwegen", sagte Petersen.

"Was?", machte Wieland. "Ja!", brüllte er so leise wie möglich, manchmal hatte er das Gefühl, Wieland war durch die vielen Gesprächsfetzen, die jahrelang an seinen Ohren vorbeirauschten, taub geworden.

Wieland kroch in sein Stoffgardinenparadies und kam mit zwei Pappbechern wieder raus.

"Was?", fragte er und hielt ihm den Becher hin.

"Ich hab nichts gesagt", sagte Petersen gerührt. "Auf Rom!", sagte Wieland.

"Wieso auf Rom", fragte Petersen erstaunt.

"Vielleicht bleibe ich da."

"Ach", machte Petersen und dachte an die schwülen Hotelzimmer, die sie im Hochsommer während ihrer Fahrten miteinander teilten, an die geblümten Tapeten an den Wänden, an die Schränke, die immer muffig rochen, so dass sie die Kleider lieber an den Bilderhaken an den Wänden aufhängten, die Hotels, die nie weit vom Bahnhof entfernt waren, und in denen das Geräusch der Polizeisirenen den morgendlichen Weckruf einläutete.

"Mein Schwager wohnt da", sagte er. "Er hat einen Laden, eine Reparaturwerkstatt für Regenschirme, da könnte ich mit einsteigen", schloss Wieland den Satz. "Du willst Regenschirme reparieren?", fragte Petersen, noch immer höchst erstaunt. "Warum?"

"Ist mal was anderes", gab Wieland zurück.

"Das ist wahr", sagte Petersen und fand sein eigenes Leben plötzlich sehr banal. "Lohnt sich denn so was? In Italien regnet es doch sowieso nie."

"Auch Rom hat Herbst und Winter."

"Wer lässt denn heute noch seine Regenschirme reparieren?", überlegte Petersen laut.

"Touristen, die extra deswegen kommen, um Handwerksläden zu besichtigen, in denen Regenschirme repariert werden."

"Stimmt", entgegnete Petersen, "dann werde ich das entsprechende Reisebüro dazu eröffnen, Spezialreisen zu Handwerksläden in Italien. Als Willkommensgruß bekommt jeder einen Ein-Euro-Schirm von Schlecker. Das Einstiegsreparaturangebot!"

"Ja, damit wäre unsere Rente gesichert!"

Petersen beneidete Wieland heimlich, um seinen Mut, ja, er hätte es ihm nicht zugetraut, noch mal komplett von vorn anzufangen. Aber vielleicht, wenn er keine Familie hätte, seine Frau, die nichts anderes tat als warten, ständig warten, bis Petersen nach Hause kam, nach Tagen, nach Wochen, sie wartete überall, sie wartete im Wohnzimmer, auf dem Klo, sie wartete beim Kochen, beim Arzt, im Supermarkt an der Kasse, im Bett wartete sie vielleicht schon nicht mehr, vielleicht wäre er dann...

"Ich hab die Schnauze voll", warf Wieland dazwischen. "Ständig dieses Durchgangsgequatsche!"

"Und, was soll daran schlecht sein?", wunderte sich Petersen. "Nach dem Morgen sehe ich die Leute nie wieder. Wir lassen uns sogar chauffieren."

"Ich will nicht mehr chauffiert werden.", grunzte Wieland. "Ich hab die Schnauze voll."

"Das sagtest du bereits", gab Petersen zurück, "ich hatte den Eindruck, du lebst ganz gern in dieser Zwischenwelt."

Wieland verschwand wortlos hinter seine rosa Gardinen. Petersen fühlte sich allein gelassen. Noch nie hatte er daran gezweifelt, dass Wieland nicht mehr als Schlafwagenschaffner arbeiten wollte. Er gehörte zum Inventar, und Petersen war fest davon überzeugt, wenn dieser Zug mal ausrangiert würde, dann würde Wieland einfach mitgehen und seine Rente innerhalb dieses Zuges versaufen.

Wieland tauchte wieder auf, hielt seine rosa Plastiktüte zwischen den Fingern und schnaufte in sie hinein.

"Ja genau", sagte Petersen, "was ist da eigentlich drin?"

"Die Hand meiner Frau", sagte Wieland.

"Was?", machte Petersen und knickte leicht ein. "Willste mal sehen?", fragte er und griff sofort in die Tüte und holte ungefragt eine weitere Plastiktüte hervor. Petersen blickte in seinen Plastikbecher mit Kognak und überlegte, ob er hineinspucken oder das Zeug lieber trinken sollte. Er entschied sich für letzteres.

Wielands Finger raschelten in der weiteren Plastiktüte und zogen einen Klumpen Alufolie heraus.

"In Alufolie?", Petersen vergaß vor Entsetzen zu schlucken. An seinen Mundwinkeln liefen Fäden von Alkohol hinunter.

Die Hand sah aus wie eine normale Hand. Kein Blut, keine abgetrennten Adern, keine verfaulten Fingernägel, so wie Petersen sich das vorgestellt hatte, die Extremität hatte eine leicht bräunliche Hautfarbe, die Haut sah nach Haut aus, man sah die Hautfalten, die etwas runzlig schienen, als ob die Hand gerade abgewaschen hatte, es fehlte lediglich der Rest des Körpers.

"Ich habe sie einbalsamieren lassen", sagte Wieland zu seiner Rechtfertigung. "Einfach so?", Petersen fiel nichts Besseres ein.

"Einfach nicht", gab Wieland zurück, "aber wenn man die richtigen Leute kennt und gegen den richtigen Aufpreis, geht das schon."

"Und wie bist du... ich meine, woher hast du...?", fing Petersen an.

"Meine Frau wurde entführt", sagte Wieland ohne Umwege. "Vor fünfzehn Jahren. Sie hatte Geld damals. Einen Tag später riefen die an und wollten zwei Millionen. Ansonsten würden sie Petra in Einzelteilen zurückschicken. Na ja, haben sie dann ja auch gemacht."

Petersen wurde immer kleiner. Damit hatte er nicht gerechnet.

"Und, hättest du das Geld nicht einfach bezahlen können?", traute er sich zu fragen.

"Ich hatte das Geld bereits zusammen, dummerweise hatte ich vorher die Polizei eingeschaltet, und die haben es dann versaut."

"Scheiße", sagte Petersen.

"Ja genau", sagte Wieland.

Petersen hätte jetzt gerne die Zugtür aufgerissen und in den Regen gekotzt.

"Drei Tage später habe ich mich bei der Zuggesellschaft beworben", sagte Wieland, "ich konnte nicht mehr Zuhause wohnen".

"Und Rom?", Petersen sehnte sich nach etwas Reellem, festem Boden unter den Füßen.

"Rom ist eine Möglichkeit", sagte Wieland. "Eine Möglichkeit, nicht mehr in Zwischenwelten pendeln zu müssen."

Petersen hatte es noch nie als Pflicht betrachtet, sich stehend nach Rom transportieren zu lassen. Als Pflicht betrachtete er, zurückkehren zu müssen. Mitten im Gedanken wurde er mit einem Ruck in den Gang geschleudert, sein Nacken schmerzte, Metall quietschte, kleine Blitze stoben aus den Gleisen, der Pappbecher flog Petersen aus der Hand, Flaschen klirrten, Wieland hatte die Notbremse gezogen. Es kamen einige Köpfe aus den Abteilen heraus, verschlafen und aufgeschreckt und verstört und fragend.

"Ein Eichhörnchen!", rief Wieland zu den Gästen, die daraufhin wieder versunken in ihre Gemächer einkehrten. Petersen war noch ganz benommen. "Ein Eichhörnchen??"

Wieland nahm seine rosa Plastiktüte, ging zum Gangende, öffnete die Zugtür und verschwand im Dunkeln. Petersen mochte nicht hinterher gehen, da er den Verdacht hatte, es handelte sich um eine geheime Mission, bei der er nicht stören durfte. Der Umriss von Wieland hockte einige Schritte entfernt im Regen und versteckte eine Plastiktüte im Gebüsch, schaufelte noch mal Erde und Gras drüber. Dann winkte er ihm in den erleuchteten Waggon zu und verschwand im Dunkeln. Petersen war irritiert. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Petersen war immer noch irritiert. Er musste aufs Klo. Das hatte er vergessen. Nach 47 Gleisabschnitten war er fertig. Er ging zurück und kroch hinter die rosa Stoffgardinen von Wieland. Statt der rosa Plastiktüte fand er die Kognakflasche mit einem Zettel darin. Umständlich fingerte er ihn heraus: "Arrivederci".

Petersen setzte sich auf ein Patchworkkissen, das Wieland auf den Sitz gelegt hatte. Das würde er auch machen. Vielleicht könnte er sich einen kleinen Tischkühlschrank reinstellen, dann müsste er nicht immer zum Speisewagen gehen, um Bier zu holen.

Die rosa Gardinen könnte er durch grüne ersetzen. Rosa musste nicht sein. Vielleicht würde er das ganze Abteil anders streichen. Und vielleicht würde er einen kleinen Balkon anbauen, damit er mal raustreten konnte. Und wahrscheinlich würde er auch ein Glasdach installieren lassen, dann könnte er vor dem Schlafen den Regen im Liegen beobachten.

Petersen lehnte sich zurück und war zufrieden.