Zeitzeugen erinnern im Bürgerhaus Wilhelmsburg an die große Sturmflut vor 49 Jahren

Wilhelmsburg. "Angst? Waren da Momente, wo Sie Angst hatten?" Der Wilhelmsburger Hans-Ulrich Seumenicht, 60, muss nicht lange nachdenken an diesem Dienstagvormittag im Bürgerhaus Wilhelmsburg - das Thema "Sturmflut 1962" steht auf dem Programm, und Hans-Ulrich Seumenicht und zwei weitere Zeitzeugen erzählen 120 Wilhelmsburger Schülern, wie es damals war, vor 49 Jahren, als in Wilhelmsburg die Deiche brachen und 207 Elbinselbewohner den Tod in den Fluten fanden.

"Nein, Angst hatte ich nicht, weil ich unwissend war", sagt Hans-Ulrich Seumenicht. Er lebte im Februar 1962 in der Straße Elsterweide in Kirchdorf, heute immer noch. "Ich war damals 11 Jahre alt, und es war für mich als Kind nicht erkennbar, dass wir auf einer Insel leben und gefährdet sind." Angst, sagt Hans-Ulrich Seumenicht, habe er erst später bekommen, als das Leid und die Schäden, die die große Flut verursacht hatten, bekannt waren. "Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn der Wind stark aus Nordwest bläst - dann gibt es immer so ein spezielles Pfeifen in den Bäumen." Dann schaltet Hans-Ulrich Seumenicht den Fernseher aus und schaut draußen nach dem Rechten.

Er selbst hat keinen Schaden genommen in jener schlimmen, kalten Nacht vom 16. auf den 17. Februar 1962. "Ich hatte mit meinem Bruder ein Kellerzimmer, es gingen permanent die Sirenen, und wir konnten nicht schlafen. Dann hat Mutter uns in den VW Käfer gesteckt, Vater war gerade beruflich im Ausland, und wir sind nach Harburg gefahren. Mein Bruder und ich haben dann im Lessing-Gymnasium übernachtet. Meine Mutter ist noch zurückgefahren, da stand das Haus schon unter Wasser."

Nach der Flut kam Hans-Ulrich Seumenichts Bruder für ein paar Wochen nach Südfrankreich; er selbst gehörte zu den "zehn glücklichen Wilhelmsburger Kindern und Jugendlichen", die für ein paar Wochen nach New Orleans im US-Bundesstaat Louisiana kamen - jener Stadt, die 2005 vom Hurrikan Katrina heimgesucht wurde. Ein Jahr nach dieser verheerenden Naturkatastrophe sorgte Hans-Ulrich Seumenicht, Vorsitzender des Bürgervereins Wilhelmsburg dafür, dass zehn Schüler aus New Orleans nach Wilhelmsburg kommen konnten.

Auch Rita Wodniczak, 70, aus der Veringstraße im Wilhelmsburger Reiherstiegviertel erlebte die Flutkatastrophe, die sich tief in das kollektive Gedächtnis ihrer Generation eingegraben hat, vor Ort. "Wenn ihr die Geschehnisse richtig begreifen wolltet, müssten wir eigentlich nach draußen in die Kälte gehen und ihr müsstet euch nasse Klamotten anziehen", rief sie den Schülern zu.

Rita Wodniczak lebte damals mit ihrem Mann Herbert, dem "tapferen Schneider" von Wilhelmsburg (wir berichteten), in der Veringstraße 31 in der zweiten Etage. "Als gegen ein Uhr der Deich an der Harburger Chaussee brach, gab es einen sehr lauten Knall wie bei einer Explosion. Die Fluten waren so stark, dass sie einen Tempowagen vom Kohlenhof Dransmann in einen neuen Tchibo-Laden spülten. In der Schneiderei meines Mannes an der Veringstraße 53 stand das Wasser einen Meter hoch, bis zwei Zentimeter unterhalb einer neuen Jacke, die mein Mann gerade geschneidert hatte und die auf einer Puppe hing. Wenige Tage später bekam das Grauen Gesichter: So war eine Malerin in ihrer Werkstatt ertrunken, sie lag unter ihrer Staffelei und konnte sich nicht mehr befreien."

Die Hamburger Autorin Kirsten Boie las aus ihrem packenden Buch "Ringel, Rangel, Rosen", in dem eine 13-Jährige die Sturmflut auf dem Dach ihres Kirchdorfer Behelfsheimes erlebt. Die Autorin erinnerte daran, dass die Toten der großen Flut auf der Kunsteisbahn in Planten un Blomen aufgebahrt wurden. "Es sind auch Kinder durch die Reihen marschiert, die ihre Eltern identifizieren mussten, das würde man heutzutage sicherlich anders machen."

Gerhard Wendt, 72, erlebte die Flut in seinem Haus in der Kirchdorfer Straße, gemeinsam mit seiner Frau und einem damals drei Wochen alten Säugling: "Zum Glück war unser Haus ja sehr stabil. Wir konnten den Jenerseitedeich sehen. Das Wasser im Haus stieg binnen 20 Minuten von null auf 1,20 Meter. Wir waren insgesamt 18 Leute im Haus, die Toiletten funktionierten nicht richtig. In letzter Sekunde habe ich mit letzter Kraft unseren neuen Schwarz-Weiß-Fernseher aufs Buffet gewuchtet."