Der Wilhelmsburger Polizeikommissar Karsten Hoff hat ein Buch über Obdachlose geschrieben. Lesung in Harburg im Dezember

Harburg/. Wilhelmsburg Ein Mann streift Tag für Tag scheinbar ziellos durch die Straßen Wilhelmsburgs, immer mit einem Einkaufswagen, in dem sich seine gesamte Habe befindet. Niemand kennt den Obdachlosen, viele machen einen großen Bogen um den nachlässig gekleideten, oft angetrunkenen Mann. "Gerade im Winter wird es hart für diese Menschen", sagt Polizeikommissar Karsten Hoff, der seit sechs Jahren in Wilhelmsburg seinen Dienst tut und in Harburg lebt.

Er kennt viele Obdachlose. Ihr Schicksal beschäftigt und bewegt den 49 Jahre alten Polizeibeamten so sehr, dass er ein Buch geschrieben hat. "Glück oder Seligkeit", so der Titel, handelt von Hendrijk, einem Deutschlehrer aus Polen, der mit vielen Hoffnungen auf ein besseres Leben nach Deutschland auswanderte und scheiterte. Auf dem Weg nach ganz unten wurde er alkoholabhängig. "Diesen Mann habe ich tatsächlich in Wilhelmsburg kennengelernt. Er übernachtete in einem Kleingarten. Die Nachbarn hatten uns alarmiert, weil Hendrijk eingebrochen war", sagt Hoff. Die Handlung seines Buches spielt allerdings nicht in seinem Revier. Hendrijk ist in Lübeck unterwegs, dort, wo Hoff aufgewachsen ist. Der Titel, eigentlich verwunderlich für die große Not, die Hoff beschreibt, soll die Leser dazu auffordern, sich mehr mit den Mitmenschen auseinanderzusetzen.

Er weiß: Obdachlose gehen selten ohne Ziel durch die Straßen. "Er machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Es war für ihn sehr wichtig, bestimmte Anlaufpunkte zeitgerecht aufzusuchen, damit er nicht anderen Leidensgenossen ins Gehege kam. Denn eines hatte er im Laufe der Jahre lernen müssen: Je größer die Not - und die ist bei Obdachlosen ja nun unverkennbar - desto größer der Neid", beschreibt er im ersten Kapitel. Hendrijk gewährte Hoff Einblicke in eine Welt, die den meisten Menschen verschlossen bleibt und mit der viele auch nicht konfrontiert werden wollen. Der Polizist fühlte sich dabei als Grenzgänger. "Wenn wir diese Leute, die es ja schwer genug haben, auch noch wegen Einbruch oder Diebstahlstaten dingfest machen müssen, hinterlässt das bei mir eher ein schlechtes Gefühl."

Oft genug wollen er und seine Kollegen Obdachlosen helfen, geben ihnen Adressen von Hilfsorganisationen und Anlaufstellen. "Das wollen viele der Betroffenen manchmal gar nicht." Sie hätten sich irgendwie eingerichtet, leben in Zelten, unter Brücken oder in Unterführungen, verborgen von der Gesellschaft in der sie nicht klar kommen. "Sie haben resigniert vor der Bürokratie und vor dem Verhaltenskodex, den man an den Tag legen muss, wenn man Erfolg im Leben haben will."

Hoff war erstaunt über Hendrijks Alltag. "Da ist der Mann so intelligent, hat einen Hochschulabschluss und macht Platte." Ein Lebensentwurf, den er vor seinem Dienst in Wilhelmsburg nicht kannte. "Ich war lange Zeit in Winterhude auf Streife." Dort, wo Obdachlose nicht im Straßenbild zu sehen sind, sondern sich eher im Stadtpark aufhalten. Oft hat er diese Menschen gefragt, wie es so weit kommen konnte. In seinem Buch schreibt er: "Hendrijk stellte sich immer wieder die Frage, was wohl dazu geführt hatte, dass sich alles so entwickelte. Er überlegte, ob vielleicht alles aus bestimmten Gründen geschehen war und ein jeder zu ganz bestimmten Zeiten selbst die Weichen für sein Glück oder Unglück gestellt hatte."

Die Weichen für das Unglück und die Fahrt auf dem Abstellgleis seiner Protagonisten schildert Hoff schonungslos. So gewinnt Hendrijk 60 000 Euro beim Lotto, kann aber zunächst den Schein nicht einlösen. "Keine Wohnung, keine Arbeit, kein Konto", so Hoff. Nachdem es doch gelingt, sich das Geld zu sichern, rinnt es Hendrijk irgendwie durch die Finger. "Geld macht eben nicht automatisch glücklich." Es kommt noch schlimmer: Hendrijks Freund Gustav stirbt, er findet ihn, umgeben von Müll, "Das Gesicht bestand nur noch aus schwarzen, mumifizierten Knochen".

Ein Anblick, der Hoff nicht fremd zu sein scheint. Der Polizeidienst im Stadtteil ist nicht einfach. "Man sieht viel Elend." Nicht immer kann er das im Dienst erlebte abschütteln. Das Schreiben hilft ihm dabei. Was seine Kollegen von ihm denken? "Viele sagen 'Mensch toll'. Denn bei der Polizei ist es nicht so angesagt, seine Gefühle zu zeigen."

Hendrijk, der im wirklichen Leben einen anderen Namen trägt, hat Hoff lange nicht mehr getroffen.

"Im vergangenen Sommer haben er und seine Freunde eine Grillparty in einem Garten gefeiert. Danach haben wir ihn wegen kleinerer Ladendiebstähle immer mal wieder geschnappt." Und dann: "Nichts." Hoff weiß, dass Hendrijk und viele andere Obdachlose auch Lebenskünstler sind und immer irgendwie durchkommen. "Hendrijk hatte dieses Glück im Unglück. Er dachte stets daran, dass es nichts schadet, in den Dreck zu fallen - es ist nur wichtig, dass man wieder aufsteht", schreibt Hoff.

"Glück oder Seligkeit", 193 Seiten stark, ist bei Books on Demand erschienen und kostet 13,25 Euro.

Hoff liest aus seinem Werk am Dienstag, 14. Dezember, ab 19 Uhr, in der Buchhandlung Stein, Am Centrumshaus 9.