Mario Goldmann aus Venezuela besucht in Harburg die Stolpersteine, die für seine Familie eingelassen wurden

Harburg. Es ist ganz still auf dem jüdischen Friedhof in Harburg, Mario Goldmann, 58, steht das erste Mal in seinem Leben am Grab seiner Großmutter, da klingelt sein Mobiltelefon. "Hallo Papa, ich bin es, Maria Florencia aus London. Wie geht es dir? Ich bin heute in meinen Gedanken bei euch!"

Mario Goldmann hat einen weiten Weg zurückgelegt, um seinen Ahnen näher zu kommen. Der Telefonverkäufer lebt mit seiner zweiten Frau Silvana Porrino, 48, in Valencia. Nicht im spanischen Valencia, sondern in Venezuela in Südamerika. Geboren ist er in Buenos Aires in Argentinien. Er hat drei Pässe: den argentinischen, den venezolanischen und den deutschen.

An diesem Sonnabend ist er das erste Mal in jener Stadt, aus der seine Familie kommt: Harburg/Elbe, das jetzt zu Hamburg gehört. Niemand aus der Familie lebt mehr in Harburg. Ein System der Barbarei, der Nationalsozialismus, hat einen Großteil der Familie ausgelöscht. Ermordet.

Gemeinsam mit seiner Frau Silvana Porrino steht Mario Goldmann an diesem Sonnabend am Grab von Toni Goldmann, geborene Behrend. Der mächtige Grabstein trägt das Geburtsdatum: 2. September 1880. Gestorben ist Toni Goldmann am 15. März. Die Ziffern für das Todesjahr sind verschwunden. "Man muss doch herausfinden können, wann meine Großmutter gestorben ist", sagt Mario Goldmann.

Nur so viel steht an diesem Tag fest: Toni Goldmann fand ihre letzte Ruhestätte, bevor die Nazideutschen das Land zerstörten.

Mario Goldmann ist bewegt vor dem großen Grabstein für seine Großmutter. "Das ist ein sehr emotionaler Moment", sagt der 58-Jährige, "dies ist das erste Mal, dass ich etwas von der Familie meines Vaters sehe. Bislang kannte ich nur ein Foto des Grabes, das mein Vater Kurt-Julius Goldmann Ende der 70er-Jahre gemacht hat."

Wir gehen gemeinsam vom Schwarzenberg in die Rieckhoffstraße. Hier, bei der Hausnummer 8, stand in der damaligen Ludwig-Frank-Straße ein Haus, in dem Mario Goldmanns Tante Editha Apteker, geborene Goldmann, lebte. Heute sind hier fünf Stolpersteine im Fußweg eingelassen: Für Editha Apteker, ihre Schwiegermutter Anna und ihre drei Kinder Lisette, Susanne und Charles. Sie alle wurden von Nazischergen am 19. April 1943 aus dem besetzten belgischen Antwerpen nach Auschwitz deportiert und dort getötet.

"Ermordet, ermordet, ermordet, ermordet, ermordet", liest Mario Goldmann seiner Frau Silvana Porrino vor. Sie versteht kein Deutsch, aber sie versteht, was ihr Mann meint.

Die Familie Apteker hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Heimat in Ostgalizien (heute: Ukraine) verlassen und sich aus Kolomyja nach Harburg begeben, wo zuvor bereits andere jüdische Familien aus derselben Stadt Wurzeln geschlagen hatten. Nathan Apteker, der Mann von Editha, geborene Goldmann, und sein Bruder Julius kämpften während des Ersten Weltkrieges in den Reihen des kaiserlichen Heeres für ihr deutsches Vaterland. Nathan Apteker wurde Besitzer eines Strumpfwarengeschäfts, später Angestellter bei im Kaufhaus Kepa in Harburg.

Als Sozialdemokrat und Jude ist Nathan Apteker den nationalsozialistischen Machthabern nach dem Machtwechsel im Januar 1933 gleich doppelt suspekt: Bereits am 1. April 1933 erhält er von seinem Arbeitgeber eine fristlose Kündigung. Am 1. September 1933 flüchtet Nathan Apteker mit seiner Frau Editha und seiner Tochter Lisette nach Belgien. In Antwerpen eröffnet er ein kleines Restaurant - gemeinsam mit seinem Schwager Kurt-Julius Goldmann, Mario Goldmanns Vater. Die Kinder Susanne und Charles kommen zur Welt.

Das vermeintliche Glück endet am 10. Mai 1940, als deutsche Truppen das neutrale Belgien überfallen. Das Restaurant wird völlig verwüstet. Im Februar 1941 wird die Familie ins Lager Limburg gebracht, im April 1943 ins Sammellager Mechelen. Die Namen der sechs Aptekers werden unter den Nummern 1390 bis 1395 eingetragen.

Am 19. April 1943 um 22 Uhr verlässt der Zug Nummer 801 mit 30 Waggons das Lager in Richtung Auschwitz. Anna, Editha, Lisette, Susanne und Charles werden dort sofort in den Gaskammern umgebracht. Mit nur 13 anderen seines Transports überlebt Nathan Apteker die schwere Lagerzeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt er als gebrochener Mann nach Antwerpen zurück und gründet später noch einmal eine Familie.

Auch Mario Goldmanns Vater Kurt-Julius, geboren am 13. März 1905, überlebte den Zweiten Weltkrieg. Schon vor Kriegsbeginn flüchtete Kurt-Julius Goldmann vom belgischen Antwerpen nach Spanien und von dort nach dem Krieg weiter nach Argentinien, wo Mario Goldmann 1952 zur Welt kam.

"Ich bin traurig, dass ich Ende der 70er-Jahre nicht gemeinsam mit meinem Vater nach Harburg gereist bin", sagt Mario Goldmann, als er vor den fünf Stolpersteinen in der Rieckhoffstraße steht. "Hier spüre ich, wie viel unsere Familie verloren hat. Leider habe ich meine Tante, meine beiden Cousinen und meinen Cousin nie kennengelernt." Geschichte wiederholt sich, mit Nuancen, häufig.

So wie Kurt-Julius Goldmann Ende der 1970er-Jahre ohne seinen Sohn von Südamerika nach Hamburg flog, kehrt auch Mario Goldmann ohne seinen Sohn Gaston, 33, und seine Tochter Maria Florencia, 25, in die Heimat seiner Ahnen zurück.

Das soll sich allerdings ändern: "Aber nächstes Jahr komme ich bestimmt wieder nach Harburg", verspricht Mario Goldmann, "mit meinen beiden Kindern."