Inszenierungen der Mozart-Oper in Lüneburg und Hamburg. Abendblatt-Autorin Carolin George hat beide gesehen - und miteinander verglichen.

Lüneburg/Hamburg. Die Geschichte des Frauenverführers Don Giovanni, 1787 von Wolfgang Amadeus Mozart zu einer Oper gemacht, birgt Stoff für jede Menge Fantasie. Denn wie dieser Typ war, der jede bekam, die er wollte, darüber erzählt der Text wenig. Viel Raum also für die Regie. In Lüneburg und in Hamburg haben in dieser Saison gleich zwei neue Inszenierungen Premiere gefeiert. Ein Vergleich.

"Dramma giocoso" hat der Komponist sein Werk betitelt, lustiges Drama. Und so viel vorweg: Lustiger ist das Drama bei Intendant und Regisseur Hajo Fouquet in Lüneburg, da trägt es mitunter sogar komödiantische Züge. Tanzt Don Giovanni in Lüneburg nach seiner Champagner-Arie mit prallen Bäuerinnen, tut er es in Hamburg mit Skeletten. Auf Komödie hat Doris Dörrie in Hamburg komplett verzichtet, bei ihr dreht sich alles um den Tod.

Um den bevorstehenden Tod des Helden, der sich bei Dörrie analog zur Musik bereits in Persona in der inszenierten Ouvertüre ankündigt. Der japanische Butoh-Tänzer Tadashi Endo spielt "Frau Tod" als Gerippe mit Glitzerkleid und rosa Hut: Die Frau, die Don Giovanni ab dem ersten Bild begleitet, die ihn in der Schlüsselszene mit der umworbenen Zerlina sogar von seinem Liebesduett ("Reich mir die Hand, mein Leben") abzulenken vermag. Die einzige Frau, die nicht von Don Giovanni verführt wird, sondern die ihn verführt. Und die letzte.

Der Tod kommt in Lüneburg erst auf die Bühne, als Don Giovanni stirbt. Doch dass seine Zeit verrinnt, dass sie zu Ende geht, ist auch in Lüneburg vom ersten Bild an mehr als sichtbar: Eine Sanduhr zeigt's.

Vergewaltigt Don Giovanni die Frauen oder nicht? Das ist die Frage, die sich in dieser Oper immer wieder stellt - und die sich die Regie selbst beantworten muss. Denn das Libretto gibt Hinweise für beide Lesarten. Bei Doris Dörrie in Hamburg tut er's nicht. Da verführt er die Frauen, und die Frauen reagieren mit verzückten Gesichtern - ob während des Akts oder in Erinnerung daran. An mehr als an Sex mit Don Giovanni können sie sich freilich nicht erinnern. Schließlich gibt er nur das eine und nichts anderes.

Wenn der Don bei der ersten Donna der Oper, es ist Anna, als Einbrecher im Bett liegt, juchzt sie in Hamburg - und auch die auf eine Leinwand projizierten Frauen träumen lächelnd von ihrem Verführer. Bettszenen erspart der Lüneburger Regisseur seinen Zuschauern zwar - oder er enthält sie ihnen vor. Von einem Vergewaltiger aber kann auch in Lüneburg keine Rede sein.

Vom Bühnenbild in Hamburg wird jeder Liebhaber gebauter Kulissen schwer enttäuscht sein - zumindest im ersten Bild. Doris Dörrie ist in erster Linie Filmemacherin, keine Opernregisseurin. Das mag der Grund sein, weshalb sie als Kulisse eine Leinwand wählte, die als Projektionsfläche dient. Die Opernwerkstätten kamen dafür bei ihren spektakulären Bühnenelementen zum Zuge: zum Beispiel dem Haus des Don Giovanni, bei Dörrie ein riesiger bunter Frauenkörper mit Assoziationen zu den Nanas von Niki de Saint Phalle - durch deren Vagina Giovanni in sein Zuhause, den Schoß der Frau, eintritt. Oder der überdimensionalen Frauenskulptur in Form eines Grabmals, von dem herunter Donna Elvira ihr Leid über den Treulosen klagt. Oder dem Kronleuchter aus Knochen, unter dem Don Giovanni sein letztes Mahl nimmt.

Auf ein gebautes Bühnenbild also verzichtet Doris Dörrie und nimmt eine Leinwand dafür, die dunkle Wolken über dem getriebenen Don Giovanni zeigt und blauen Himmel mit Schäfchenformation, als der Tod ihn erlöst hat.

In Lüneburg spielt alles in einem einzigen Raum, der sich in seinen Grundzügen nicht ändert. Die mit Frauenabbildungen bemalten Wände, die matten Fensterscheiben und die Bühne auf der Bühne bleiben das gesamte Stück lang bestehen. Draußen vor dem Haus wachsen Birken, die Bäume der Fruchtbarkeit, der Liebe, des Lebens und der Wiedergeburt - und nach der Pause wachsen sie auch drinnen. Warum, dazu später.

Die Frage, wie Regie mit singenden Toten umgeht (hier: Donna Annas von Giovanni ermordetem Vater, der Don Giovanni zuruft: "bereue!"), beantwortet Filmemacherin Dörrie mit einer Windmaschine, die einen durchsichtigen cremeweißen Vorhang verweht. Den gleichen Vorhang gibt es witzigerweise auch in Lüneburg: mal zum Verstecken, mal zum Wegsehen, mal zum Schutz. Und der Tote in Lüneburg? Steht in Person des Sängers leibhaftig auf der Bühnenbühne, allerdings größtenteils bewegungslos.

Donna Elvira verkommt in Hamburg zur lächerlichen Gouvernante, in Lüneburg ist sie die einzig Erwachsene unter Giovannis Liebschaften. Zerlina wird in Hamburg zur Punkerin mit Baby, in Lüneburg bleibt sie die naive Bäuerin. Donna Annas Verlobten, Don Ottavio, macht Dörrie zur Tunte mit rosa Perücke und Mops, bei Fouquet wirkt er wie eine überforderte Porzellanpuppe, die nur hektische Gesten machen darf.

In einer Sache sind sich die Regisseure Dörrie und Fouquet sehr einig: Bei Don Giovanni geht es nicht um einen einzelnen Mann, sondern um ein Prinzip. Dörrie zeigt das, indem sie seine drei Frauen in drei verschiedenen Zeiten leben lässt: Mozarts Epoche, Jahrhundertwende und Gegenwart. Das Prinzip Don Giovanni also funktioniert immer. Fouquet zeigt das völlig anders: Er lässt nach Giovannis Tod im letzten Bild seinen Nachfolger die Szene betreten - und wir wissen, warum die Birken im Raum stehen. Der Neue zieht nicht nur den Mantel des Vorgängers an, sondern nimmt auch dessen Lieblingspose ein: als Denker (!) im schweren Lesersessel. Und auch seine Sanduhr beginnt zu verrinnen.

Der letzte Unterschied zum Schluss: In Hamburg wird das Original-Libretto auf Italienisch gesungen, die deutsche Übersetzung wird übertitelt. In Lüneburg wird auf Deutsch gesungen - ohne Übertitelung. Und im kleinen Theater greift der Regisseur zu einem Mittel, das Publikum einzubeziehen: Er lässt Don Giovanni mit Damen in der ersten Reihe flirten.

Der Hamburger Don Giovanni läuft erst wieder nach der Sommerpause, im Theater Lüneburg gibt es noch mehrere Vorstellungen bis Mai. Die Karten kosten in Hamburg zwischen vier und 79 Euro inklusive HVV, in Lüneburg zwischen sieben und 29,50 Euro, es gibt Ermäßigungen.