Cornelia Lipp aus Hanstedt inszeniert verschollenes Klaus-Mann-Stück

Dafür, dass eine Welturaufführung eines Klaus Mann-Textes ansteht, ist Nele Lipp ziemlich gelassen. Nele Lipp wohnt in Hanstedt. Sie ist Tanzwissenschaftlerin, steht mit ergrauten Haaren, Jeans und einem umgebundenem blauen Pullover im Ballettzentrum Hamburg des Starchoreografen John Neumeier. Zwei angedeutete Kajalpunkte unter ihren Augen geben ihr etwas Exotisches. Vielleicht passt das zum Thema. Während Lipp die Proben zu "Die zerbrochenen Spiegel", einer Tanzpantomime von Klaus Mann mit scharfen Augen begleitet, findet sie zwischen resoluten Anweisungen auf Englisch für ihren Tänzer Gelegenheit, Bruchstücke zu erzählen, die Augen ununterbrochen auf Tänzer Sasha Riva geheftet.

Für den Hamburger Kulturfrühling "Himmel auf Zeit" über die wilden 20er-Jahre in Hamburg habe sie den Auftrag bekommen, etwas zum Tanz in dieser Zeit beizutragen. "Am besten zeigen Sie etwas mit Tanz", hatte es geheißen. Lipp überlegte. Doch während sie im Deutschen Tanzarchiv Köln ihren Forschungen nachging, machte sie plötzlich zwischen den Archivregalen eine grandiose Entdeckung. Ein 84 Jahre alter Text geriet ihr durch den Tipp des Institutsleiters Frank-Manuel Peter in die Hände, ein schmales Bändchen, gut erhalten und tatsächlich aus der Feder von Klaus Mann: Seit Erstabdruck 1989 in der nur in Fachkreisen gelesenen, sonst aber nicht sehr auflagenstarken Zeitschrift "tanzdrama" war das Libretto in der Versenkung des Archivs verschwunden, noch nie auf einer Bühne aufgeführt worden. Lipp war jetzt klar, was sie zum Kulturfrühling beitragen würde.

Wie setzt man einen 84 Jahre alten Text um?

Lipp bürstete also den Staub von dem schmalen Text, der 1926 geschrieben wurde und fing an zu grübeln, wie man einen 84 Jahre alten Text heute tänzerisch umsetzen könnte. Bei der Lektüre geriet Lipp immer wieder ins Staunen. Klaus Mann schien ein größerer Tanzfreund zu sein, als je angenommen, sich gar als zweiten Nijinsky zu fantasieren. "Damals war das der Star am Hamburger Tanzhimmel", sagt Lipp. In Posen zitieren sie und ihr Team diesen Stil, bei der Recherche habe man außerdem auf Fotos aus der Zeit zurückgegriffen. Und dass John Neumeier, an dessen Ballett Zentrum man probt, ein großer Verehrer von Nijinsky sei und durch den berühmten Tänzer und Choreografen sogar zu seinen Balletten "Vaslaw" (1979), "Nijinsky" (2000) und im vergangenen Jahr zu "Le Pavillon d'Armide" inspiriert wurde, findet Lipp passend: "Da schließt sich der Kreis wieder." Die chorischen Tänze wiederum, die in einigen Szenen bei Klaus Mann zitiert werden, kennt Christiane Meyer-Rogge-Turner, die die Lola Rogge Schule leitet. Die Schülerinnen der Tanzschule tanzen die Passagen nun als Filmprojektion.

Im Medium des Tanzes, so glaubt Lipp, spiegele Klaus Mann in dem Libretto "Die zerbrochenen Spiegel" sein Leben und liefere zudem eine Miniatur der damaligen Situation des Tanzes in Hamburg. Für sie als Tanzwissenschaftlerin äußerst aufschlussreich, geradezu aufregend: In den vielen Zitaten im Stück erkennt sie berühmte Persönlichkeiten der damaligen Tanzszene in Hamburg wieder: Rudolf Laban, Hans Weidt und die Falke-Schwestern.

Die Vorhänge im Ballettzentrums an der Caspar-Voght-Straße sind zugezogen, warmes Sonnenlicht fällt gedämpft in den Raum in Hasselbrook. Die Wände sind verspiegelt, rundherum laufen Ballettstangen aus hellem Holz. Unter den Schritten knartscht der Boden aus Linoleum. Auf Sasha Riva Trainingshose steht auf den hinteren Taschen "Ballett John Neumeier" gedruckt. In einem ärmellosen Shirt wärmt der 19-Jährige sich auf. Durchtrainiert und doch zart sieht der Italiener und Ballettschüler von John Neumeier aus, fast androgyn, hier am Ballettzentrum wird er ausgebildet. Mehr als 80 Prozent der Mitglieder von Neumeiers Compagnie sind diese Schule zur Vorbereitung durchlaufen. "Er ist der kommende Stern", glaubt Lipp, "alle werden sich in ihn verlieben, Männer wie Frauen."

Riva wird die Hauptrolle in Klaus Manns Stück, den Prinz Narzissus tanzen. Als Solitär. Alle weiteren Figuren, ein junger Arbeiterführer, ein blinder Arbeiter, zwei Tänzerinnen, Bedienstete des Hofes und ein Chor von Arbeitern integriert Lipps Team per Videoprojektionen, mit denen Riva tanzen wird. Eine Live-Kamera projiziert zudem die Bewegungen des Balletttänzers überdimensional an die Wand.

Doch was erzählt Klaus Mann, der begabte Sohn des Literaten Thomas Mann, der sich zu seinen homoerotischen Neigungen bekannte und seinem nie ganz glücklichen Leben 1949 durch eigene Hand ein Ende bereitete, in dem verschollenen Stück? Beeinflusst von Dekadenzästhetiken der Jahrhundertwende und des Fin de Siècle, erzählt Mann 1926 eine Geschichte von Narzissmus, Dekadenz und Untergang: Der weltabgewandt auf sich bezogene Prinz gibt sich nur noch den eigenen Reflexionen im Spiegel hin, die Welt ist ihm eng geworden, der Prinz schwingt nicht mehr mit der Außenwelt mit.

Ein klirrendes Kleid aus Aluminiumstäben

Sasha Riva setzt dies choreografisch in gebrochene Bewegungen und manieriert gespreizte Gesten um. Derart auf sich beschränkt, bleibt der Prinz blind für den herannahenden Arbeiteraufstand, angeführt vom jungen Arbeiterführer und seiner roten Fahne. Die alte Welt des Prinzen wird durch diese Revolutionäre in Scherben brechen: Ihm wird der Mantel heruntergerissen - eine symbolische Entmachtung.

Lipp und ihr Team um die Schweizer Choreografin und Theaterpädagogin Beatrice Schickendantz haben ein klirrendes Kleid aus Aluminiumstäben gewählt, das der Prinz als einsamer Solitär tragen wird. Bei seinen Bewegungen ergibt das eine spezielle Soundkulisse. Träumt der Prinz das alles nur? Film, Musik und Tanz interagieren in der Inszenierung von Lipp, eingeblendet werden für die Chor-Partien Filmprojektionen, die der Künstler Karsten Wiesel mit Tanz-Schülerinnen der Lola Rogge Schule drehte und die eine eigene räumliche Realität schaffen. "In Schwarz-Weiß, um an die Ästhetik von Piscator aus der damaligen Zeit anzuknüpfen", so Lipp.

Sasha Riva gibt einen expressiv-dekadenten Narziss, der die rechte Portion einer morbiden, asexuellen und sterilen Weltabgewandtheit ausstrahlt. Parallel zur Welturaufführung am 10. Juni wird es eine Ausstellung unter dem Motto "Tanz der Neunzehnhundertzwanziger in Medien der Zweitausendzehner" mit Installationen und Kabinetten geben, die über die aufregende Zeit der 20er Jahre informieren. Manch einer bezeichnete diese freigeistige Zeit gar als "Tanz auf dem Vulkan", bevor der Nationalsozialismus der Vielfalt ein Ende bereitete: Tanz war die Metapher dieser bunten Welt.

10. Juni, 19 Uhr, HfbK, Lerchenfeld 2, Karten 20 Euro (mit Ausstellungsbesuch) unter karten@koinzi.de .