Immer mehr Polizisten in der Direktion Lüneburg werden im Dienst beleidigt, angegriffen und verletzt

Buchholz. Es war ein reiner Routineeinsatz. Einer, bei dem eigentlich keine Gefahr lauert. Doch am Ende ging Christof Vietgen, Erster Polizeihauptkommissar bei der Polizeiinspektion Harburg, geprügelt und gepeinigt nach Hause.

Ein Fischteich-Besitzer aus Buchholz hatte am Himmelfahrtstag die Polizei alarmiert, nachdem betrunkene Jugendliche Flaschen in den Teich warfen. Als Vietgen mit Kollegen eintrudelte und die rund 100 Personen aufforderte, das Gelände zu verlassen, eskalierte die Situation innerhalb kurzer Zeit.

Eine Gruppe von zehn Männern im Alter von Anfang 20 Jahren machte keine Anstalten, den Platz zu verlassen. Im Gegenteil: Die jungen Männer beleidigten den Beamten in heftigster Weise. Bosheiten vom Kaliber wie "Schwanzlutscher" und "schwule Sau" musste sich Vietgen anhören. Dabei blieb es aber nicht. Die Männer bedrängten den 50-Jährigen, schubsten und schlugen ihn. "Letztendlich blieb mir nichts anderes übrig, als die Personen zu Boden zu bringen", sagt Vietgen.

Das ist kein Einzelfall. Gewalt gegen Streifenbeamte ist inzwischen Alltag bei der Polizei. Das belegt auch eine interne Erhebung der Polizeidirektion Lüneburg. Danach ist die Zahl der sogenannten Widerstandshandlungen gegen Polizisten von der Harburger Wache seit drei Jahren auf gleich bleibendem hohem Niveau und bei den Lüneburger Kollegen sogar gestiegen. Die Fälle reichen von Gewaltandrohungen wie etwa "Ich schlag' dir gleich in die Fresse" bis zu tatsächlichen Schlägen und Tritten.

In Harburg wurden vor vier Jahren 59 Beamte Opfer von pöbelnden und gewalttätigen Menschen, 2009 waren es 60. In der Polizeiinspektion Lüneburg, zu der auch Lüchow-Dannenberg und Uelzen zählen, stiegen die Fälle von 63 auf 80 in den vergangenen drei Jahren an. "Ein hohes Level", sagt Gerke Stüven, Sprecherin der Lüneburger Polizeidirektion. Dabei sind die Übergriffe, die den Polizisten auf Demonstrationen widerfahren, noch nicht einmal in den Zahlen enthalten. Die Studie bezieht sich lediglich auf das Alltags- und Routinegeschäft, also darauf, was zum Beispiel bei Verkehrskontrollen passiert oder wenn Beamte Streit zwischen Ehepartnern schlichten müssen.

Zahl der Dienstunfähigkeitstage hat sich verdreifacht

Viel besorgniserregender als das gleich bleibende hohe Niveau der Widerstandshandlungen findet Stüven aber etwas ganz anderes: Dass die Zahl der Beamten, die in Folge der Übergriffe nicht in der Lage sind zu arbeiten, explosionsartig angestiegen ist. 2007 zählte die Polizeidirektion Lüneburg in den Inspektionen Lüneburg, Stade und Harburg noch 41 Dienstunfähigkeitstage. Im vergangenen Jahr hat sich die Zahl mehr als verdreifacht (145 Tage). Den höchsten Anstieg hat die Polizei in Stade zu verzeichnen. Dort erhöhten sich die Krankheitstage von 29 auf 87 Tage.

Die Beamten sind nach den Auseinandersetzungen schwer gezeichnet. Blaue Flecken, Prellungen, Stauchungen, Zerrungen, Kratz- und Bisswunden seien das häufigste Krankheitsbild, sagt Stüven. Es kam aber auch schon mal zu Kreuzband- und Trommelfellrissen.

Auch bundesweit nimmt die Gewalt gegenüber Polizeibeamten zu. Das hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen in einer Studie herausgefunden. Knapp 21 000 Polizisten aus zehn Bundesländern wurden per Fragebogen im Internet zu ihren Gewalterfahrungen befragt. Das Ergebnis ist alarmierend: Die Zahl der verletzten Polizisten, die nach einer Attacke mindestens sieben Tage nicht zum Dienst erscheinen konnten, nahm seit 2005 um rund 60 Prozent zu.

Fast jeder Befragte war 2009 Aggressionen ausgesetzt. 81,9 Prozent von ihnen wurden beschimpft, beleidigt oder verbal bedroht. Fast jeder Zweite wurde gestoßen, geschubst oder festgehalten. Ein Viertel berichtete von Schlägen und Fußtritten. Mit einer Waffe oder einem anderen gefährlichen Gegenstand wurden mehr als 14 Prozent bedroht - fast neun Prozent wurden damit auch angegriffen.

Die Täter werden immer jünger. "Der typische Täter ist männlich und unter 30 Jahre alt", sagte Kriminologe Christian Pfeiffer, der das niedersächsische Institut leitet. Auffallend oft ist Alkohol im Spiel.

Gewalt führt zu Frust und Wut im Arbeitsalltag

Das hat Vietgen, der seit 1976 bei der Polizei tätig ist und seit 20 Jahren Dienst auf der Straße schiebt, bei seinen Streifenfahrten ebenso festgestellt. "Man kann kein normales Gespräch mit ihnen führen", sagt Vietgen. "Wenn sie betrunken sind, meinen sie, den Großen herauskehren zu müssen." Der Hauptkommissar ist eine Autoritätsperson. Sein geradliniger entschlossener Blick lässt ahnen, dass der Mann nicht zimperlich ist und kaum Situationen kennt, die er nicht unter Kontrolle hat.

Doch auch bei diesem gestandenen Polizeibeamten, macht sich inzwischen Frust und Wut im Arbeitsalltag wegen gestiegener Gewalt breit. Und das, obwohl der Polizeihauptkommissar derweil hauptsächlich vom Schreibtisch aus agiert. Denn seit einem Jahr leitet er den Einsatz- und Streifendienst der Polizeiinspektion Harburg in Buchholz. Er muss nicht immer Streife fahren und wird nicht in den Schichtdienst eingeteilt.

Nur, wenn es nötig ist, springt er ein und setzt sich in den Einsatzwagen. Dennoch: Die Gewaltsausbrüche der Jugendlichen und jungen Erwachsenen machen ihm zu schaffen. "Das Schlimme ist, sie schlagen, hauen ab, und am Ende wird das Verfahren gegen sie eh eingestellt." Vietgen sieht sich von der Justiz alleingelassen. "Das Strafmaß wird einfach nicht ausgeschöpft."

Kein Wunder, dass sich viele seiner Mitarbeiter vom Schichtdienst verabschieden möchten. Von den 54 Mitarbeitern in Buchholz haben bereits fünf im vergangenen Jahr ihren Einsatzbereich gewechselt. Sie ermitteln lieber vom Schreibtisch aus.

Denn jeder Tag im Leben eines Streifenbeamten wird zum Risiko. In jeder Situation, egal, ob bei einer Verkehrskontrolle, beim Discobesuch oder wenn sie Streitfälle schlichten, muss ein Beamter damit rechnen, eine Faust ins Gesicht zu bekommen. Vietgen hat die Erfahrung gemacht, dass die Schläge verstärkt zielgerichtet gesetzt werden. An empfindlichen Stellen - gegen die Kniescheibe, in den Rücken oder in die Beine. Deshalb rät er seinen Mitarbeitern: "Das oberste Gebot ist, misstrauisch zu sein."