Auf den ersten Blick ist diese Krippe nichts Besonderes. Wie in jeder anderen Kita geht die Post eine Etage tiefer ab. Auf Hüfthöhe spielen die Kurzen miteinander, streiten sich - und vertragen sich wieder. Was soll hier anders sein?

Winsen. Die unorthodoxe Architektur mit sehr üppigen Räumen? Die Fußbodenheizung, die ein angenehmes Extra darstellt? Wohl kaum. Optische Feinheiten sind es jedenfalls nicht, die die Lebenshilfe-Kita am Winsener Bultweg von ihren Schwestereinrichtungen unterscheidet.

Das besondere dieser Kita ist inhaltlicher Natur. Denn unter dem roten Ziegeldach spielen, streiten und vertragen sich Kinder mit und ohne Behinderung . Und zwar nicht erst in der Kindergartengruppe, sondern bereits ab einem Alter von einem Jahr, also in der Krippe. "Denn Behinderung beginnt nicht erst im Alter von drei Jahren", sagt Kita-Leiterin Kerstin Höfig. Insofern wird die Lebenshilfe Lüneburg-Harburg an diesem Freitag die erste integrative Krippengruppe des Landkreises eröffnen. Zwölf Kinder, eines davon mit Handicap, erleben ihren Alltag dann zusammen.

Die Gruppe ist Teil eines Modellprojektes des Landes, es ist eingebettet in die deutschlandweite Initiative, bis zum Jahr 2013 jedem dritten Kind unter drei Jahren einen Krippen- oder Tageselternplatz anbieten zu können. Wissenschaftlich wird das Modellvorhaben vom Pädagogen Lothar Fichtner, der auch schon die Integration für ältere Kinder mit umsetzte, begleitet. Erstmals wird in Niedersachsen untersucht, ob das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderung im Alter von ein bis drei Jahren funktioniert. Die "Sonnengruppe", wie der Zusammenschluss der zwölf Krippenkinder getauft wurde, besitzt also Modellcharakter.

Und wenn den ersten Eindrücken Glauben geschenkt werden darf, funktioniert das Miteinander prächtig: Die Kinder machen jedenfalls keine Unterschiede im Umgang miteinander. Es spielt keine Rolle, dass einer anders ist. Gemeinsam hängen sie Wäsche auf, spielen im Matsch oder decken den Tisch. "Kindern ist egal, ob jemand behindert ist", sagt Kerstin Höfig. Wenn jemand Glasknochen hat, entwicklungsverzögert ist, oder eine geistige Behinderung hat, wird das in der Gruppe sachlich erklärt - und von den Kindern angenommen. Danach toben, streiten und spielen sie weiter.

"Die Kinder gehen neutral miteinander um. Sie werten nicht. Und je früher dieses Bewusstsein vermittelt wird, desto besser", sagt die Kita-Leiterin. Denn dann seien die Kinder untereinander die besten Lehrer, würden ganz natürlich mit anders sein umgehen. "Häufig ist es ja so, dass wir Behinderungen als etwas besonderes darstellen und damit den Betroffenen erst richtig behindern", so Höfig. Deshalb werde in der Lebenshilfe-Kita auch der situationsorientierte Ansatz verfolgt. Mehr Begleitung und Unterstützung als strenger Lehrplan.

Günstig bei der Umsetzung des neuen Angebots: Seit 2001 befindet sich am Bultweg der heilpädagogische Kindergarten der Lebenshilfe, in dem ausschließlich Kinder mit einer Behinderung betreut werden. Im September 2009 wurde nebenan erst der integrative Kindergarten (18 Kinder, vier mit Handicap) eröffnet, und nun also konsequenterweise auch eine Krippengruppe. Alle teilen sich einen Spielplatz - das führt zwangsläufig zum großen, bunten Durcheinander. In der neuen Kita kümmern sich neun Pädagogen um 30 Kinder - ein Betreuungsschlüssel, der dem intensiveren Zuneigungsbedarf aller Kinder Rechnung trägt. Außerdem werden die gehandicapten Kinder mit heilpädagogischen Therapiestunden versorgt und individuell gefördert. Das war's dann aber auch an Unterschieden. Ansonsten nehmen alle Kinder am Morgenkreis teil, lernen die Jahreszeiten kennen, versuchen sich im Umgang mit verschiedenen Materialien. Von 7 bis 16.30 Uhr steht die Kita darum für alle Kinder offen, denn getreu dem Lebenshilfe-Motto ist es "normal verschieden zusein".

Gerade Eltern von Kindern mit Behinderung erleben nachweislich mehr Stress als andere Eltern. Insofern ist Integration insbesondere für sie eine interessante Facette, obgleich sich das Angebot an alle richtet. Insgesamt, so Kita-Leiterin Kerstin Höfig, fuße die Arbeit auf Vertrauen und Transparenz.

Und dieser Ansatz scheint anzukommen. Ein Indiz: 70 Eltern stehen auf der Warteliste.